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Soziales Gewissen als Folge eines Werdegangs

Von STEPHAN NEEF 12.04.2010, 15:58

THALE/MZ. - Es kommt selten vor, dass der öffentliche Auftritt eines 89-Jährigen zum gesellschaftlichen Ereignis wird. Doch es war vorhersehbar. Denn dieser Mann, der vor fast 90 Jahren im böhmischen Brandau geboren wurde und vor 65 Jahren nach Thale kam, ist inzwischen eine Institution: Prof. Willi Neubert - Maler, Grafiker, Hochschullehrer.

Thale wollte von dem international renommierten Künstler in Wendezeiten nichts mehr wissen. Erst als der Wernigeröder Kunst- und Kulturverein ihm 1995 eine Werkschau widmete und sich selbst westdeutsche Städte wie Würzburg oder Baden-Baden um seine Bilder bemühten, wurde Neubert auch an der Bode wieder entdeckt. Der Bann war gebrochen.

1996 zeigte die Stadt Thale in ihren Rathaus-Sälen 82 Gemälde, Grafiken, Collagen und Emailarbeiten. Zwei Jahre später folgte die erste Neubert-Schau des Hüttenmuseums - und damit an jenem Ort, an dem Neubert den Grundstein für seine spätere Karriere legte.

Jetzt kehrte er noch einmal in die Galeriekapelle des Museums zurück. "Aufbruch ins Universum", heißt die neue Ausstellung, die Neubert als "Abschluss" versteht, wie er betonte. "Es sagt viel über Willi Neubert aus, wenn er im 90. Lebensjahr einer Ausstellung diesen Titel gibt", gestand Museumsleiterin Ute Tichatschke in der Vernissage. Viele kamen, um diesen "Aufbruch" zu sehen: Bürgermeister, Amtsleiter, Ratsherren, Unternehmer, Künstler, langjährige Weggefährten und Freunde. Nur selten treffen sich in Thale so viele prominente "Funktionsträger" aus Vergangenheit und Gegenwart.

Alle standen dicht gedrängt vor jenem Werk, das der Ausstellung den Namen gab, und seinem Schöpfer. Neubert saß vor dem 1:2-Entwurf seines großflächigen Emailbildes "Aufbruch ins Universum", das er 1976 für die Decke des Berliner Presse-Cafes schuf. Die 3,25 Meter breite und 3,75 Meter hohe, farbintensive und aus 42 Emailplatten zusammengesetzte Darstellung bedeckt vollständig die westliche Stirnseite der Kapelle. Ihr gegenüber, an der großen Tür der Ostseite, hat wieder Neuberts "Mutter mit Kind" (1969) ihren Stammplatz eingenommen. Sie wird diesmal allerdings von zwei thematisch gleichartigen Bildnissen flankiert - der "Indischen Mutter" (1965) und einer "Madonna" (1989), die ebenfalls ein Kind in ihren Armen hält. Dazwischen finden sich Werke unterschiedlicher Schaffensperioden, von Arbeitsproben und Collagen bis zu abstrakten Darstellungen.

Laudator Dr. phil. Peter Michel (Berlin) nannte Neuberts 90. Geburtstag am 9. November 2010 als "Anlass für diese Rückschau auf ein einzigartiges Leben und unverwechselbare künstlerische Leistungen", mit der sich ein Kreis schließe. Dieser Teil des langjährigen Arbeitsplatzes von Willi Neubert sei zwar Museum geworden, "die Werke dieses Künstlers sind dagegen noch nicht museal". Michel erinnerte zugleich daran, dass eine solche Künstler-Biografie in der DDR durchaus typisch war: Ein Stahlwerker wird zum Kunststudium delegiert, wird Institutsleiter, Professor und Wegbereiter moderner baubezogener Kunst. Das soziale Gewissen, das Neuberts Arbeiten präge, sei eine Folge dieses Werdegangs. "Ich will auf Menschen wirken, ihnen Selbstbestätigung geben", zitierte Michel eine Neubert-Äußerung aus der DDR-Zeitschrift "Bildende Kunst". Und nannte den berühmten "Schachspieler". Heute ziert dieses Werk des Thalensers die Homepage des Deutschen Schachbundes, der es als Original-Lichtdruck für jeweils 70 Euro verkauft. Auch etliche Online-Shops bieten Kunstdrucke von Neubert-Arbeiten an.

Michel geißelte zugleich den Nach-Wende-Bildersturm, zu dessen Opfern auch Neubert gehöre. Von 13 Wandbildern sei nur noch die Hälfte "unverändert zu sehen". Der stadtbildprägende Fries an der Außenwand des Berliner Pressecafes ("Unser Leben" / 1969-1973), dessen Wert Michel mit dem von Walter Womackas legendärer "Bauchbinde" am Haus des Lehrers vergleicht, sei von Werbung abgedeckt worden. Das vielfach reproduzierte Neubert-Bild "Gestern-Heute" (1975), das im einstigen "Palast der Republik" zwischen Arbeiten von Willi Sitte, Bernhard Heisig oder Werner Tübke hing, wird im Depot des Deutschen Museums versteckt, die Leihgabe aus fadenscheinigen Gründen verweigert. "Auch so kann man Vergessen fördern." Michel sprach von "gezieltem Gesinnungsvandalismus". Auch deshalb ist die Empfehlung von Dr. Harald Watzek in seiner Laudatio der 1998er Neubert- Ausstellung heute aktueller denn je: Stadt, Rat, Schunck AG und geeignete Vereine sollten "ernsthaft darüber nachdenken, wie eines Tages das künstlerische Gesamtwerk von Neubert aufbewahrt und gepflegt werden kann".

Die Ausstellung ist noch bis zum 16. Mai zu besichtigen: Bis zum 30. April täglich außer montags zwischen 9 Uhr und 17 Uhr, ab 1. Mai an den Wochenenden von 10 Uhr bis 18 Uhr, an Wochentagen wie in der Winterperiode.