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Amazon, Handyverträge Schuldnerberatung der Arbeiterwohlfahrt in Quedlinburg: 455 verschuldete Menschen holten sich Hilfe

Von Katrin Schröder 29.03.2019, 06:57
Es gibt viele Wege in die Schuldenfalle – Arbeitslosigkeit, Trennung und Krankheit, aber auch Handyverträge und Interneteinkäufe.
Es gibt viele Wege in die Schuldenfalle – Arbeitslosigkeit, Trennung und Krankheit, aber auch Handyverträge und Interneteinkäufe. dpa

Quedlinburg - Auf dem Konto steht unter dem Strich ein dickes Minus, der Briefkasten ist voller unbezahlter Rechnungen: Wer Schulden hat, der wird seines Lebens nicht mehr froh - und wartet meist trotzdem zu lange, bis er etwas unternimmt.

„Manche haben schon seit sieben, acht Jahren Schulden, bevor sie zu uns kommen“, sagt Anke Gercke-Oberstädt. In der Schuldnerberatungsstelle der Arbeiterwohlfahrt (Awo) in Quedlinburg betreut sie mit Björn Marin die Ratsuchenden, die ihre Geldprobleme in den Griff bekommen wollen.

„Manche Menschen haben schon seit Jahren Schulden, bevor sie zu uns kommen“

In den vergangenen zwei bis drei Jahren habe sich die Zahl der Klienten verdreifacht, sagt die Schuldnerberaterin. Das habe mit der Beratungsstelle selbst zu tun: Nach Umzügen und personellen Wechseln sei Ruhe eingekehrt. „Die Menschen öffnen sich eher, weil sie uns kennen“, sagt Anke Gercke-Oberstädt.

Damit fallen mehr Schlaglichter auf die finanziellen Schwierigkeiten vieler Menschen – die Dunkelziffer war schon immer hoch, weiß die Beraterin. 1.147 Beratungen haben die beiden Mitarbeiter im vergangenen Jahr absolviert und damit 455 Betroffenen geholfen.

Die meisten von ihnen kommen aus Quedlinburg, Ballenstedt, Harzgerode und Thale. Es werde aber niemand abgewiesen, der von außerhalb des Altkreises Quedlinburg in die Beratungsstelle kommt – mitunter weil er hofft, in einer anderen Umgebung anonym zu bleiben.

Arbeitslosigkeit, Trennung und Krankheit sind häufig Auslöser von Schulden

Hohe Schulden kommen nicht von ungefähr. „In 60 bis 70 Prozent der Fälle steht ein Schicksal dahinter“, weiß die Schuldnerberaterin. Es sind Tiefschläge, die Menschen im fortgeschrittenen Alter treffen und zu Lebenskrisen führen, zum Beispiel Arbeitslosigkeit, Trennung und Krankheit.

Wenn sich ein Ehepaar scheiden lässt oder einer der Partner stirbt, kann der Zurückbleibende oft den Kredit für das Eigenheim nicht mehr bedienen – eine klassische Konstellation, die direkt in die Schuldenfalle führt.

Wenn die Betroffenen arbeiten und Geld verdienen, lässt sich meist eine Lösung finden. Eine Privatinsolvenz bietet die Möglichkeit, binnen sechs Jahren einen Weg aus der ausweglosen Situation zu finden. Das betrifft 155 der 455 Klienten, die 2018 bei der Awo zur Beratung waren.

Schwieriger ist es bei Arbeitslosen und sozial Schwachen, sie stellen die Mehrheit der Klienten in der Schuldenberatung. Viele sind Hartz-IV-Empfänger und haben kaum genug, um Geld abzuzahlen. Manche trifft es erst, wenn sie mit Mitte 50 oder später ihre Arbeit verlieren.

„Es gibt viele, die in der oder kurz vor der Rente noch in die Insolvenz rutschen“, so Anke Gercke-Oberstädt. Wenn deren Arbeitsleben nach der Wende unterbrochen war, reicht die Rente gerade so zum Leben.

Schuldnerberater kooperieren mit der Tafel und Drogenberatern

Die Awo-Berater nehmen sich aller Probleme an, die ihre Klienten mitbringen, betont Anke Gercke-Oberstädt - auch wenn sie nicht immer selbst helfen können. Doch dafür gibt es ein Netzwerk, um weitere Angebote zu vermitteln. „Manchmal kommen Leute her und haben Hunger, weil sie nichts mehr im Kühlschrank haben.“ Diese schickt die Schuldnerberaterin zur Tafel, die mit dem Nötigsten aushilft.

Auch Abhängigkeit spielt oft eine Rolle. „Alle Süchte produzieren Schulden“, sagt die Beraterin aus Erfahrung - nicht nur Alkoholismus und Drogensucht, sondern auch der krankhafte Drang zu Glücksspiel und Einkaufen.

Letzteres trifft vor allem auf junge Leute zu, die bei der Awo Hilfe suchen. „Amazon, Paypal, Handyverträge“, fasst die Beraterin zusammen. Sie hat erlebt, wie Klienten mit Anfang 20 durch mehrere Handyverträge und ausufernde Online-Bestellungen mehr Minus angehäuft haben als mancher, der doppelt so alt ist.

Das Einkaufen im Internet verführt zu Anschaffungen, die sich die Betroffenen nicht leisten können. „Die Leute machen das auf Pump, weil sie es bar nicht können.“ Wie die junge Mutter, die für ihr Baby alles nur Erdenkliche im Internet bestellt hat: Das Kind sollte es besser haben als die Mutter, die im Heim groß wurde.

Viele Schuldner verdrängen ihre Probleme, lassen Brief ungeöffnet

Nicht allen ist bewusst, wie prekär ihre Lage ist. „Die verdrängen das, gehen damit locker um“, berichtet die Schuldnerberaterin. Wenn junge Leute ungeöffnete Briefe bringen, schickt sie sie wieder nach Hause, damit sie sich erst einmal einen Überblick über ihre Misere verschaffen.

Manche Schuldner ziehen ihre Familienmitglieder hinein - zum Beispiel, wenn der Enkel Handyverträge oder Versicherungen auf die Großeltern abschließt. Manchmal bescheren aber auch Eltern ihren Kindern Schulden. Oft haben die Schuldnerberater zudem mit alleinerziehenden Müttern zu tun. Sie haben Geldsorgen, weil die Väter keinen Unterhalt zahlen, und wegen der Kinder wenig Chancen auf einen Vollzeitarbeitsplatz. „Das ist ganz schwer“, sagt die Beraterin. (mz)