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Sammeln wie die Grimms

Von Detlef Anders 13.02.2006, 16:31

Quedlinburg/MZ. - Lieder, die die Harzer einst gesungen haben und die ohne ihn inzwischen längst vergessen wären, wenn man sie nicht in zwei Büchern nachlesen könnte. So wie manche Volksmärchen vergessen worden wären, wenn sie nicht einst von den Gebrüdern Grimm gesammelt und aufgeschrieben worden wären.

Doch Ernst Kiehl ist nicht nur ein leidenschaftlicher Sammler von Volksliedern. Als Gründungsmitglied und Schriftführer des Fördervereins Historische Sammlungen Quedlinburg engagiert er sich auch für die Regionalgeschichtsforschung. Seit 1998 ist er Leiter der Redaktion der vom Verein herausgegebenen Quedlinburger Annalen. Das 128 Seiten dicke heimatkundliche Jahrbuch für die Stadt und Region erscheint jährlich mit zahlreichen Beiträgen zu den verschiedensten Themen der Regionalgeschichte.

Bei Ernst Kiehl laufen die Fäden zusammen und er hält den Kontakt mit der Druckerei. In einer kleinen Gruppe werden die eingereichten Manuskripte gesichtet und entschieden, welche Beiträge gedruckt werden. Ernst Kiehl ist auch selbst Autor mehrere Beiträge. Im vergangenen Jahr schrieb er einen Artikel zu der Harzwanderung von Eichendorf. Dabei ist Kiehl kein gebürtiger Harzer. "Wir waren Umsiedler. Ich komme aus dem Kreis Oppeln", erklärt er. In Magdeburg ging er zur Schule und studierte Maschinenbau. Doch das Großstadtleben war nichts für den jungen Mann. "Ich war immer sehr naturverbunden", sagt er zu der Bewerbung im Quedlinburger Messgerätewerk. 1962 zog Ernst Kiehl nach Quedlinburg, wo er bei Mertik Vorrichtungen für die Produktion konstruierte. Sein Hobby war die Musik. "Da ich selbst Akkordeon spielte, habe ich Volkslieder gesucht." Als Notenvorlage fand er nur ein kleines dünnes Heftchen mit viel zu wenigen Liedern aus dem Harz.

Wenn Ernst Kiehl am Wochenende mit dem Rad zu Musikveranstaltungen fuhr, machte er unterwegs auch manche Pause und kam mit den Ortsbewohnern ins Gespräch. Eine der ersten Touren führte ihn nach Friedrichsbrunn. Der damalige Lehrer Rolf Schilling, der die Trachtengruppe leitete, gab ihm Noten und Texte von weiteren Harzer Liedern, die seine Gruppe sang. Kiehl entwickelte eine richtige Sammelleidenschaft. Bei allen Gelegenheiten kam er mit Sängern ins Gespräch, die ihn oft auf Menschen aufmerksam machten, die früher einmal im Chor sangen und Lieder ihrer Großeltern kannten. Das Aufschreiben der neuen Texte ging schnell, doch es war mühsam, den Gesang in Noten umzusetzen. Später nahm er die Lieder auf Tonband auf, um sie dann zu transkribieren.

Zwei Volksliederbücher

Ernst Kiehl notierte sich natürlich auch die Namen der Vorsänger und die Gelegenheiten, bei denen die Lieder gesungen wurden und die Quellen. Insgesamt 606 verschiedene Lieder mit teilweise mehreren Text- und Melodievarianten finden sich in dem als Ergebnis der Sammelleidenschaft heraus gegebenen Bänden "Die Volksmusik im Harz und Harzvorland". Es ist die wohl größte Volksliedersammlung der Region, die seit 1992 gedruckt vorliegt. Es macht Spaß, darin zu blättern und Kinderlieder oder Mundartlieder zu lesen.

"Es war amal a Machen un a Jingeling" (ein Mädchen und ein Jüngling) hat ihm am 31. Mai 1975 in Dankerode Gertrud Bormann, damals 74 Jahre alt, in Mundart vorgesungen. Der bekannte frühere Ballenstedter Förster Paul Lamster empfahl am 1. Oktober 1972 im Alter von 77 Jahren "Es sollte sich halt keiner mit der Liebe abgeben" und die Bad-Suderöder Ortschronistin Helene Heuer erklärte ihm am 26. August 1972, wie das Ratespiel zu "Pinkepank, der Schmied ist krank" gespielt wurde.

Seit 1972 war Ernst Kiehl auch Mitglied der Jury des Harzer Jodlerwettstreites. Nach dem Streit zwischen Altenbrak und Clausthal-Zellerfeld im vergangenen Jahr hat er sich dort aber ausgeklinkt. Aktiv arbeitet er auch im deutschen Nationalkomitee des "International Council for Traditional Music", das ist eine Organisation der Unesco, und in der Arbeitsgruppe "Regionale Musikgeschichte Sachsen-Anhalt" mit, die von der Universität Halle und dem Landesheimatbund initiiert wurde.

Als Mitglied der Eichendorff-Gesellschaft berichtet und schreibt er gern über das Leben und Werk des romantischen Dichters Joseph von Eichendorff, der im September 1805 durch den Harz wanderte. In den Quedlinburger Annalen finden sich auch Biographien Kiehls über bedeutende Persönlichkeiten des Quedlinburger Geisteslebens. Er erforschte das Leben der Anna Sophia, Landgräfin von Hessen (1636 bis 1683), die Äbtissin im Quedlinburger Stift war und Kirchenlieder gedichtet hat, die über 300 Jahre lang in protestantischen und reformierten Kirchen von der Schweiz bis nach Norwegen gesungen wurden. Die Verdienste des Domorganisten Arno Bartel und des Gründers des Quedlinburger Oratorienchores, Kantor Carl Künne, waren weitere Forschungsfelder. Wie alle Autoren schreibt auch Kiehl ohne einen Cent Honorar. Trotzdem gibt es Wartelisten für die Beiträge. "Wir wollen die Form beibehalten, um den Preis leserfreundlich zu machen. Was nützt ein Werk, das 40 Euro kostet, das dann nicht gekauft wird. Wir wollen, dass die Sachen gelesen werden", begründet er den stets gleichen Umfang und Preis der Annalen.

Schriftentausch

Stolz berichtet Kiehl, dass die Bände in ganz Deutschland gelesen werden, Rückmeldungen und Nachfragen zu den Beiträgen kommen. Die Quedlinburger Annalen werden nicht nur in bedeutenden Universitäts- und Landesbibliotheken in den Bestand aufgenommen, sondern auch von solch prominenten Institutionen, wie der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, der bayrischen Staatsbibliothek München oder der Stiftsbibliothek St. Gallen bezogen. Die Historische Bibliothek im Quedlinburger Schloss profitiert ebenfalls von den Publikationen des Fördervereins Historische Sammlungen: Durch Tauschschriftenvereinbarungen erhält Quedlinburg Bücher zur Regionalgeschichte aus anderen Regionen.

"Ernst Kiehl hat großen Anteil daran, dass das Jahrbuch durch seine gute Gestaltung und breite Themenauswahl in der Regionalgeschichtsforschung inzwischen in ganz Zentraleuropa eine hohe Anerkennung genießt", fasst Dr. Bernd Feicke, der Vorsitzende des Fördervereins, die Arbeit seines Schriftführers zusammen. Auch in Zukunft möchte Kiehl noch weiter ehrenamtlich forschen. Eine Arbeit, bei der Kiehl noch ganz ohne Computer auskommt.