1. MZ.de
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Quedlinburg
  6. >
  7. Abschied : Quedlinburg: Nachtwächter Rüdiger Mertsch verabschiedet sich

Abschied  Quedlinburg: Nachtwächter Rüdiger Mertsch verabschiedet sich

Von Petra Korn 14.05.2016, 14:42

Quedlinburg - Mit forschem Schritt begibt sich Nachtwächter Rüdiger Mertsch auf den Weg durch die Gassen der Quedlinburger Altstadt: Die Öllampe schwenkend, die Hellebarde - eine mittelalterliche Hieb- und Stichwaffe - wie einen Wanderstock nutzend, bis zum nächsten Stopp. „Ich bin dann hier mal stehengeblieben, weil...“, hebt er an. Und dann taucht er mit seinem Publikum, Touristen in der Welterbestadt, in die Geschichte Quedlinburgs ein: mit Geschichten und Anekdötchen, immer untersetzt mit historischen Fakten.

Am Markt, beim Café in sieben Häusern, ist das ein bisschen anders: Hier greift Mertsch nach dem Horn, lässt ein lautes Signal erklingen. Sekunden später eilt Kerstin Emmer herbei: mit einem Tablett, darauf ein kleines Bier. „Das Tuten hat sich gelohnt“, stellt der Nachwächter fest und fügt mit einem Schmunzeln hinzu: „Das funktioniert immer.“ Seit vielen, vielen Jahren - und an diesem Abend wohl zum letzten Mal.

Es ist die letzte offizielle Führung als Nachtwächter, bei der Rüdiger Mertsch Gästen sein geliebtes Quedlinburg zeigt. Zum letzten Mal ist er in den dunkelgrünen, wasserfesten Lodenmantel geschlüpft, hat den grau-braunen Hut aus gepresstem Filz aufgesetzt, zu Lampe, Horn und Hellebarde gegriffen. Das alles wird der dienstälteste Nachtwächter in der Welterbestadt nun an den sprichwörtlichen Nagel hängen. „Mal muss es sein. Irgendwo muss man auch einen Schnitt machen“, sagt der inzwischen 77-Jährige.

Tradition wiederbelebt

Den Beruf des Nachtwächters gibt es schon seit dem Mittelalter. Nachtwächter hatten in den Städten für Ruhe und Ordnung zu sorgen, darauf zu achten, dass keine Brände entstehen bzw. diese sich nicht verbreiten, und Bürger vor Feinden zu warnen.

Seit wann es in Quedlinburg Nachtwächter gab, ist unbekannt. Überliefert ist aber, dass 1800 zwölf dieser Wächter in der Altstadt und sechs in der Neustadt tätig waren. 1886 war Schluss; die Berufsgruppe gab es in der Bodestadt nicht mehr.

1995 belebten die Quedlinburger Gästeführer den Traditionsberuf neu: Am Himmelfahrtstag gestaltete Udo Glathe die erste Nachtwächterführung, wenige Tage später war Rüdiger Mertsch das erste Mal mit Gästen als Nachtwächter auf Tour.

Wie viele solcher Führungen es bis heute, im 22. Jahr dieser besonderen Tätigkeit geworden sind? Rüdiger Mertsch weiß es nicht. „Das ist schwer zu sagen. Mal waren es mehr, mal weniger, in der Weihnachtszeit fast jeden Tag.“ Durchschnittlich, schätzt der Quedlinburger, werden es wohl zwei pro Woche gewesen sein.

"Erlebnisse, die man nie vergisst"

Das Besondere an diesen Führungen ist zum einen, dass es Kostümführungen sind; zum anderen ist es die Art und Weise, wie hier Wissen und Geschichte vermittelt werden. „Die historische, reine Fachführung ist nicht jedermanns Sache“, sagt der Gästeführer, der mit viel Spaß in die Rolle des Nachtwächters geschlüpft ist. „Da kann man alles lockerer und lustiger beschreiben“, sagt er und unterstreicht: „Aber immer mit dem Grundsatz Stadtgeschichte.“

Und natürlich, fügt Rüdiger Mertsch, mit einem Schmunzeln hinzu, muss man bei einer Führung in der Dunkelheit auch darauf achten, was die Gäste tatsächlich sehen können.

Viele schöne Touren durch die Stadt hat er so erlebt. Rüdiger Mertsch nennt beispielsweise den Gaststätten-Hopp, der von einer Gaststätte zur nächsten führte, wobei auch Gebrautes verkostet wurde, oder eine Führung für Nachfahren der Familie Erxleben. „Das sind Erlebnisse, die vergisst man nie.“

Dank der Gäste gewiss

Schwer fällt Rüdiger Mertsch, der sich schon während seiner beruflichen Tätigkeit als Bauleiter für die Stadtgeschichte interessiert hat und zum Hobby-Historiker geworden ist, der Abschied von der Nachtwächter-Aufgabe nicht. Er möchte künftig wieder Tagesführungen machen, vorrangig für Familien und Paare.

Und da ist ja noch der Münzenberg „mein A und O“, so der 77-Jährige. Zu diesem hat Rüdiger Mertsch bereits zahlreiche Fakten und Geschichten zusammengetragen. „Ich bin jetzt dabei, für jedes Haus eine Geschichte zu schreiben.“

Grundlagen dafür bilden unter anderem die Adressbücher, die von 1848 bis 1952 alle zwei Jahre herausgegeben wurden, oder Zeitungsartikel, in denen beispielsweise über Versteigerungen oder Brände berichtet wurde. „Langeweile wird es nicht geben“, sagt Rüdiger Mertsch.

„Ich möchte mich bewegen, und das auch geistig.“ Dazu zählt auch die Korrespondenz mit ehemaligen Gästen, die sich im Anschluss an Führungen in ungezählten E-Mails, Briefen und auf Karten nicht nur bedanken, sondern oft auch noch die eine oder andere Frage haben.

Ein herzliches Dankeschön gibt es auch von den Gästen bei der letzten offiziellen Nachtwächterführrung: sechs Studienfreunden mit ihren Partnern. Rüdiger Mertsch freut sich, rückt seinen Hut zurecht - und greift nach dem Handy, um seine Frau zu bitten, dass diese ihn mit dem Auto abholen kommt. Wie immer am Ende einer solchen Führung, und nun zum letzten Mal. (mz)

Hier ist er zuhause: Rüdiger Mertsch in den Straßen von Quedlinburg.
Hier ist er zuhause: Rüdiger Mertsch in den Straßen von Quedlinburg.
Chris Wohlfeld