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Neinstedter Anstalten 1953 Neinstedter Anstalten 1953: Probleme werden weggelobt

Von andreas bürkner 16.08.2013, 08:26
Die Betreuung der geistig-, körperlich- oder mehrfach behinderten Kinder durch die Schwestern und Brüder der Neinstedter Anstalten (im Bild) wurde von heute auf morgen an Mitarbeiter aus dem Gesundheitswesen übertragen, die für diese Aufgabe kaum qualifiziert waren.
Die Betreuung der geistig-, körperlich- oder mehrfach behinderten Kinder durch die Schwestern und Brüder der Neinstedter Anstalten (im Bild) wurde von heute auf morgen an Mitarbeiter aus dem Gesundheitswesen übertragen, die für diese Aufgabe kaum qualifiziert waren. privat Lizenz

neinstedt/MZ - Im Osten rumorte es gewaltig - im Frühjahr 1953. Der Volksaufstand vom 17. Juni ist sicher das markanteste Ereignis in der jungen DDR in jenem Jahr. Wie überall versuchte die kommunistische Führung auch im Harz, den selbst verordneten Aufbau des Sozialismus durchzusetzen - mit allen Mitteln. Eines der größten Opfer einer geänderten Kirchen-Politik wurden die Neinstedter Anstalten. In einer kleinen Serie soll an die Ereignisse vor 60 Jahren erinnert werden.

Nach der langen Hetzkampagne und dem Bericht einer Kommission, deren Aufgabe vor allem darin bestand, Gründe für die staatliche Übernahme zu finden, musste die Anstaltsleitung trotz Protestes die Leitung am 2. Mai 1953 abgeben. Selbst darüber werden noch Lügen verbreitet, wie in der „Freiheit“ vom 5. Mai 1953. „Bei der staatlichen Übernahme wurde ein völliges Durcheinander in der Geschäftsführung festgestellt, wodurch es schwer war, eine Übersicht über die Geschäftslage der Anstalt zu erlangen.“

Nur Übernahme, keine Enteignung

Die Verwaltung wurde von den neuen Herrschern ebenso beschlagnahmt, wie die Konten für die laufenden Kosten sowie 48 000 Deutsche Mark an Kirchengeldern. Das führte zur Meinung der Betroffenen, eine Enteignung zu erleben. „Sie war es aber nicht, sondern eine staatliche Übernahme“, relativiert Wolfgang Bürger heute, der zwar erst 1961 nach Neinstedt kam, sich aber im Archiv ausführlich mit den Ereignissen von 1953 befasst hat. Ziel sei es vor allem gewesen, die Einrichtung mit der Erziehung von jungen Menschen ganz auf die Linie des Staates zu bringen. „Von überall wurden eilig Leute in Bussen angekarrt“, berichtet Hans Fuhrmann, ein Zeitzeuge, der als Diakonschüler während des Praktikums im Umfeld der Leitung arbeitete. Die „demokratisch gesinnten, zuverlässigen Mitarbeiter“, wie sie der Ratsbeschluss zur Übernahme vorschrieb, sollten das bisherige Personal in den Anstalten ersetzen.

Bisheriges Personal entlassen

Die bisherigen Erzieher und das kirchlich gebundene Pflegepersonal, welches nach Meinung der neuen Leitung „die unmenschlichen Zustände“ erst ermöglicht hatten, wurden von heute auf morgen entlassen und durch „staatlich ausgebildete“ sechs Erzieher und 37 Schwestern abgelöst, welche „die Gewähr für eine demokratische und humane Erziehung der Jugendlichen bieten“, so die Mitteilung im SED-Blatt des Bezirkes Halle. „Sämtliche Hausväter, Diakonissen und Diakone, Schwesternschülerinnen sowie die Mädchen des Proseminars - einer Art der Berufsvorbereitung bis zum 18. Lebensjahr - sowie alle kirchlich gebundene Mitarbeiter wurden der Anstalt verwiesen“, berichtet Zeitzeuge Fuhrmann von Schicksalen ganzer Familien, die sofort ausziehen mussten und plötzlich ohne Arbeitsplatz dastanden.

Mit Schildern „Unbefugten Zutritt verboten“ zu den Bereichen wurden rings um die Anstalt die bisherigen Mitarbeiter von den neuen Machthabern fern gehalten. Während für die ehemaligen Mitarbeiter die Existenz auf dem Spiel stand und sie sich deshalb auch anderenorts um eine neue Stelle bemühten, werden die Schwesterschülerinnen und jungen Mädchen zunächst heim zu ihren Familien geschickt.

„Für uns blieb damals überraschend der rein kirchliche Teil von der Übernahme unberührt“, stellte Fuhrmann fest, so dass auch die Gottesdienste und die Diakonenausbildung weiter fortgesetzt wurden. „Unsere einzige Möglichkeit, etwas von den geänderten Bedingungen aus den Heimbereichen zu erfahren, waren die abendlichen Andachten in der Lindenkirche“, weiß Hans Fuhrmann noch. Trotz eines Verbotes der neuen Leitung kamen auch teilweise die Bewohner zu diesen Zusammenkünften. „Sie sangen und beteten gemeinsam mit uns für eine Erlösung von den Lasten, die uns so ungewollt aufgebürdet wurden.“ Walter Jacobsen, damals ebenso wie Hans Fuhrmann als Diakonschüler in den Neinstedter Anstalten, verbrachte in der Ausbildung den Teil der praktischen Arbeit vorwiegend im Pflegebereich. „Es war eine anstrengende und schwierige Tätigkeit, die großes Einfühlungsvermögen vorausgesetzt hat“, erklärt der 80-Jährige heute. Die gesamte Betreuung der vorwiegend jungen Menschen mit leichten und schweren Behinderungen sollten nun die unbekannten Schwestern und Pfleger übernehmen. „Sie waren mit der Aufgabe aber völlig überfordert“, kann sich Jacobsen noch an die Probleme erinnern, von denen die Bewohner damals berichteten. „Sie waren halt für den Umgang mit Behinderten nicht speziell ausgebildete Leute“, hat er einen Grund dafür ausgemacht.

Statt Problemen Erfolge verkauft

Zunächst wurde von den neuen Leitern alles „Kirchliche“ aus den Räumen entfernt und die Betreuung auf sozialistische Grundregeln umgestellt, was immer das auch heißen möge. Der „Freiheit“ war es am 27. Mai 1953 besonders wichtig, dass „das Essen in den Neinstedter Anstalten um 100 Prozent verbessert worden ist“. Mit einem Wochen-Speiseplan, der trotz der angespannten wirtschaftlichen Situation im Land, in dem Lebensmittel mit Marken rationiert wurden, mittags bei Rinderbraten, Schnitzel, Königsberger Klopse und Sauerbraten nur einmal süße Nudeln ausweist, soll der Beweis dafür angetreten werden. Ob dies allerdings bei der Bevölkerung für Begeisterung sorgte, ist nicht überliefert.

Geplante Sanierung nun eigene Idee

Sogar eine Diätküche für die Krankenstation sollte bald folgen, kündigte die neue Leitung an. Eine Woche später lobten die Macher einen entscheidenden Wandel in den Anstalten, der „sich nicht nur an hellen Aufenthalts- und Schlafräumen, sondern auch im Verhalten der Pfleglinge erkennen lasse, die ihr bedrücktes Wesen abgelegt hätten und sich nun wohler und freier fühlen“ würden. Wie zuvor bei den Lügen über die Zustände fanden sich auch diesmal wieder überzeugte Werktätige, welche die Veränderungen über den grünen Klee lobten, ohne über die wahren Zustände informiert zu sein.

„Es wurden nur die von Martin Knolle und dem Vorstand der Neinstedter Anstalten längst geplanten, aber nie genehmigten und mit Material ausgestatteten Sanierungsarbeiten endlich begonnen“, erläutern die Zeitzeugen heute den Hintergrund. Es als eigene Idee oder Initiative auszugeben und sich damit auch noch zu brüsten, sei damals die übliche Methode gewesen.

Über einen Monat war seit der Übernahme vergangen, als sich erste Hoffnungsschimmer für eine Rückkehr zu den vorherigen Verhältnissen zeigten. Die Stimmung im gesamten Land hat sich seit dem harten Kurs und den Erhöhungen von Preisen und Normen derart gewandelt, dass selbst die Genossen in Moskau die SED-Spitze zurück pfeifen - mit Erfolg für Neinstedt.

Schilder erinnern an die Aktion 1953.
Schilder erinnern an die Aktion 1953.
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Endlich ist nach langer Propaganda eine Handhabe gefunden, um die Neinstedter Anstalten in staatliche Verwaltung übernehmen zu können.
Endlich ist nach langer Propaganda eine Handhabe gefunden, um die Neinstedter Anstalten in staatliche Verwaltung übernehmen zu können.
repro/ bürkner Lizenz
Schnell sind Menschen gefunden, die den Kurs der Partei unterstützen.
Schnell sind Menschen gefunden, die den Kurs der Partei unterstützen.
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