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Landkreis Harz Landkreis Harz: 90 Kinder müssen pro Jahr in Obhut genommen werden

Von Detlef Horenburg 25.08.2015, 12:38

Quedlinburg/Halberstadt - Rund 90 Kinder im Landkreis Harz müssen jährlich aus ihrer gewohnten Umgebung herausgenommen werden. Sie werden in Pflegefamilien oder in Einrichtungen der Jugendhilfe untergebracht. Das betrifft Kinder vom Säuglingsalter bis zum 18. Lebensjahr. Die Zahl ist in den letzten vier Jahren etwa gleich geblieben.

„Die Ursachen für die im Rechtssinn bezeichnete Inobhutnahme sind unterschiedlich“, weiß Kathrin Vahl, Abteilungsleiterin Sozialpädagogischer Fachdienst beim Landkreis Harz.

Körperliche Misshandlung, sexueller Missbrauch, grobe Vernachlässigung und offensichtlicher Drogenkonsum sind typische Fälle, in denen das Jugendamt sofort einschreitet und ein Kind aus der Familie nimmt. Derzeit sind 350 Kinder und Jugendliche in rund 200 Pflegefamilien im Landkreis Harz untergebracht. Die Hauptgruppe bilden hier die 0 bis 12-Jährigen.

„Das Jugendamt ist die einzige Stelle, die den Eltern ein Kind vorübergehend entziehen kann“, erklärt Vahl. „Das ist ein harter Eingriff, für den es sehr wichtige Gründe geben muss.“ Im günstigsten Fall stimmen die Eltern zu. Die Erziehungsberechtigten erhalten dann umgehend einen Termin beim Jugendamt, um mit dem zuständigen Sozialarbeiter den Vorfall und mögliche Hilfsangebote zu besprechen.

Sorgerechtentzug als letzte Lösung

In den meisten Fällen seien die Eltern auch bereit mitzuarbeiten, sagt Vahl. Es gibt eine ganze Reihe ambulanter Hilfen, zählt die Abteilungsleiterin auf. Dazu gehört zum Beispiel der Erziehungsbeistand oder auch ein Platz in einer Tagesgruppe. Auch das Gericht kann Eltern dazu auffordern, Hilfen zur Erziehung in Anspruch zu nehmen. Und auch bei Verweigerung der Eltern geschieht die Inobhutnahme und die damit verbundene Unterbringung in einer Pflegeeinrichtung oder einer Schutzstelle zunächst nur für einen kurzen Zeitraum. Danach muss ein Familiengericht entscheiden, wie es weiter geht. Wenn gar nichts hilft, kommt es zum Entzug des Sorgerechts für eine längere Zeit.

„Die Inobhutnahme ist eine Krisenintervention“, betont die Abteilungsleiterin. Sozusagen ein letztes Mittel, wenn beispielsweise vorgeschaltete ambulante Angebote keine positive Veränderung der Situation für das Kind bewirken oder eine Mitwirkung durch die Eltern kategorisch abgelehnt wird. „Nur wenn unmittelbare Gefahr für Leib und Leben des Kindes besteht, kommt es zur sofortigen Inobhutnahme“, unterstreicht Vahl. Verweigern sie sich, muss die Polizei hinzugezogen oder das Gericht bemüht werden. Immerhin sei eine Inobhutnahme ein Eingriff in die Bürger- und Erziehungsrechte.

Die gesetzlichen Grundlagen für eine Inobhutnahme durch das Jugendamt sind im Sozialgesetzbuch (Achtes Buch, Paragraf 42) geregelt. Zuständig ist der Sozialpädagogische Fachdienst beim Jugendamt des Landkreises Harz. Beobachtungen oder Notfälle sollten der Rettungsleitstelle des Landkreises oder der Polizei gemeldet werden.

Um Inobhutnahme können Minderjährige selbst bitten oder werden von Dritten (Polizei, Betreuern) dem Jugendamt gemeldet. Unter anderem dafür wurden von vielen Jugendämtern spezielle Anlaufstellen (Kinder- und Jugendnotdienste) eigenständig oder über freie Träger realisiert, an die sich die Betroffenen wenden können. Wenden sich Minderjährige in Aufnahmeabsicht unmittelbar an eine pädagogische Einrichtung, ist das noch keine Inobhutnahme. HO

Warum die Mitarbeiter des Jugendamts oft auch auf Hinweise angewiesen sind, lesen Sie auf Seite 2.

Mitarbeiter auf Hinweise angewiesen

Die Zahl der angezeigten Fälle von angenommener Kindeswohlgefährdung ist weitaus größer als die der Inobhutnahmen, stellt die Abteilungsleiterin klar. Schulen, Ärzte, Kindergärten, Nachbarn aber auch Verwandte wenden sich, oft auch anonym, an das Jugendamt, Polizei oder die Rettungsleitstelle, wenn sie glauben, dass ein Kind bei seinen Eltern nicht gut aufgehoben ist, weil es vermutlich geschlagen oder vernachlässigt wird. „Die Mitarbeiter sind auf solche Hinweise angewiesen“, betont sie. Kathrin Vahl: „Wir haben keine Glaskugel, um zu sehen, wo geholfen werden muss.“

Es müsse klare Indikatoren geben, um eingreifen zu können. Allen Verdachtsfällen werden immer durch zwei Mitarbeiter vor Ort nachgegangen. Es gilt das Vier-Augen-Prinzip. Insgesamt gibt es für die sozialpädagogische Betreuung 23 Mitarbeiter. Im sozialpädagogischen Fachdienst des Landkreises Harz arbeiten 32 Mitarbeiter.

Nur in knapp der Hälfte der Fälle kommt es wirklich zum harten Eingriff der Inobhutnahme. Und davon wiederum wird nur etwa die Hälfte vor dem Familiengericht verhandelt. In allen anderen Fällen zeigen sich die Eltern kooperativ und verschiedene sozialpädagogische Familienhilfen führen beispielsweise zur „spürbaren Verbesserung“ der Situation.

Sofort mitgenommen werden die Kinder nur, wenn eine dringende Gefahr für das Kindeswohl besteht. „Je kleiner ein Kind ist, desto schneller wird gehandelt“, sagt Vahl. Zum Beispiel, wenn sich herausstellt , dass ein Säugling längere Zeit unversorgt ist. Auch das ist nicht selten: „Manchmal stellen sogar ältere Kinder oder Jugendliche selbst auch den Antrag auf Inobhutnahme“, weiß die Sozialpädagogin aus der täglichen Praxis.

Meist seien es Familien in schwierigen sozialen und/oder wirtschaftlichen Verhältnissen, in denen die Situation eskaliert und wehrlose Kinder zu Opfern werden, weil ein Elternteil oder gar beide Eltern mit der momentanen Lebenssituation überfordert sind.

Dass Hilfen zur Erziehung nicht billig sind, zeigt ein Blick in den Haushaltsplan des Landkreises. Jährlich müssen knapp zehn Millionen Euro für Erziehungshilfen ausgegeben werden. „Auch gut qualifizierte und geeignete Leute sind im sozialen Dienst sehr wichtig“, unterstreicht Kathrin Vahl.

Doch auch an ihnen gehe das Gesehene nicht spurlos vorbei: In diesem Fall gebe es kollegiale Runden, um die oft „sehr erschütternden“ Erlebnisse aufzuarbeiten. (mz)