«Freude» über die Köstlichkeiten
Gernrode/MZ. - Der Flug über Sibirien, den wir nun bei guter Sicht hatten, gab uns über die wirklichen ausmaße des Landes einen richtigen Aufschluss. Stundenlanger Flug ohne eine Siedlung zu sehen. Nachdem wir zwei Tage unterwegs waren, erreichten wir Tomsk. Wer wohl anders begrüßte uns dort wieder als Viktor.
Wie er es wieder fertig gebracht hat, wissen die Götter. Es war aber sehr gut, dass er da war, denn wir wurden gleich von ein paar angetrunkenen Kriegsinvaliden in nicht gerade freundschaftlicher Weise angenommen, die für ihre verlorenen Arme Geld von uns verlangten. Viktor erledigte das auf seine Art - nicht gerade zimperlich - mit der Bemerkung zu uns: Wenn du das nicht so machst, kommst du hier nicht durch, hier will jeder nur haben. Auf dem Bahnhofsvorplatz wurden wir von der Chefärztin des Tomsker Krankenhauses und dem Leiter des Hauses der Deutschen, Herrn Feit, begrüßt. Dann ging es ins Büro der Gruppe der Menschenrechte. Hier war es der Leiter, Herr Kandiva, der uns begrüßte und uns zu einem kleinen Imbiss einlud. In Tomsk hatte man uns im Hotel untergebracht, es war nicht schlecht und von den Freunden gut organisiert. Doch waren wir zu müde, um noch viel von der Umwelt zu sehen. Der erste Tag unserer Mission war beendet.
Todmüde - wirklich zum Umfallen - ging es ins Bett. Gut ausgeschlafen und frohen Mutes haben wir den neuen Tag wieder begonnen. Viktor (wer weiß, wo er geschlafen hat) hatte in der Nähe des Hotels eine Imbisseinrichtung ausfindig gemacht. Erstmals konnten wir uns mit allerlei "russischen Köstlichkeiten" verwöhnen. Wir hatten die Wahl: Essen und Trinken, oder nicht. Da dies aber für mich das oberste Gebot war, dass gegessen werden musste, gab es für mich auch kein Wenn und Aber. Mit vollem Bauch lässt sich in Russland vieles leichter überstehen. Ganz erstaunt war ich, dass trotz der Trostlosigkeit so viele Menschen zur Arbeit gingen oder fuhren.
Es schien so, als wenn alles, was Beine hatte, unterwegs war. Bus auf Bus, die hier längst zu Schrott verarbeitet worden wären, beförderte die Menschen. Sicher ist die Arbeitsproduktivität gemessen an europäischen Verhältnissen sehr gering, aber alle arbeiten, wohl nur für einen geringen Lohn.
Scheinbar aber genug zum Erwerb des Allernotwendigsten. Möglicherweise ist auch ein Großteil der Bevölkerung arbeitslos, wer kennt aber die russische Mentalität, schon gar nicht die sibirische. Auch muss man sicher in die hier herrschenden Lebensverhältnisse hinein geboren werden, um damit fertig zu werden, umso zu leben, wie es in dem Land der unendlichen Weiten und Gegensätze erforderlich ist. Die sibirische Lebensart kann man nicht erlernen oder sich angewöhnen. In Sibirien muss man geboren werden oder aufgewachsen sein, um all das gelassen hinnehmen zu können und zufrieden zu sein. Wenn auch viele aus Sibirien auswandern, werden sie im Innersten ihres Herzens, auch bei allem Elend, das sie verlassen, immer Sibirier bleiben. Vielleicht ist es die Not, die hier herrscht, die dies bewirkt.
Doch nun wieder zurück zu unserer Expedition. Der zweite Tag in Tomsk war ausgefüllt von einem Besuch im ehemaligen KGB-Gefängnis in Tomsk. Es war schon bemerkenswert, wie sich die Verhältnisse gleichen - die selben Zellen wie bei uns bei der Stasi, nur um 10 Grad härter. Auch mit dem Unterschied, dass die Menschen sich dort von der Angst der damaligen Verhältnisse noch nicht gelöst haben. Sie befürchten, dass die jetzigen Verhältnisse sich wieder ändern könnten. 70 Jahre Sowjetmacht hat ihre Spuren hinterlassen und es braucht seine Zeit, um die Menschen, wenn überhaupt, zu neuem Denken zu bewegen. Der Gedenkstein am KGB-Gefängnis hat keine Aufschrift. Es soll sich jeder seine eigenen Gedanken machen. Doch liegen dort immer Blumen, auch wenn es nur ein Löwenzahn mit einem Birkenreisig ist.
Am Mahnmal des Großen Vaterländischen Krieges, so wie der Krieg in Russland genannt wird, wurde mir ganz klar bewusst, so habe ich es auch unserer Dolmetscherin zum Ausdruck gebracht, dass dieses furchtbare Ereignis die Menschen unter eine Glocke der Gemeinsamkeit gefügt hat, die, so lange sie leben, sie zusammen hält. Unsagbare Schicksalsschläge hat der Krieg und seine Folgen allen Familien gebracht und hat sie durch Trauer und Leid zusammengeschweißt. Anders ist auch nicht zu verstehen, dass alte Frauen, die kein Einkommen haben, mit ihren selbst gefertigten Besen diese Mahnmale sauber halten und pflegen. Sicher ist es auch ein Zeichen, dass in den Köpfen der alten Frauen der russisch-orthodoxe Glaube den Stalinismus doch immer besiegt hat. In den schwermütigen Melodien der sibirischen Lieder kommt ebenfalls die ewige Unterdrückung, die schon immer über dem Land und seinen Menschen lag, zum Ausdruck.