Der Mann, der über Schwellen ging
Gernrode/Quedlinburg/MZ. - Ansonsten wolle er "keine Andenken, weil das weh tut". Schließlich sei er sehr gern Eisenbahner gewesen, über 39 Jahre lang. Und hätte auch gern noch weiter gemacht, mindestens ein halbes Jahr. Dann nämlich, nach 40 Dienstjahren, hätte er sich Hauptsekretär nennen können. Aber es gab keine Arbeit mehr für ihn, den damals 61-Jährigen. So wurde er nach Hause geschickt. Für immer. Als Obersekretär. Alte Dienstbücher hat er noch, aber keine Bahn-Devotionalien - von wegen Ehrenteller oder Mini-Loks.
Plastik am Gleis
Jedenfalls bis vor wenigen Tagen nicht. Seit dem 1. April ziert seine Quarmbecker Wohnung eine ungewöhnliche "Plastik", die an historische Schmalspurgleis-Formen erinnert. "Form 6, 8 und Preußen 15", weiß Günther. Und meint damit die Breite der einstigen Schienenkronen. Auf dem Sockel finden sich die Lettern GHE wieder, das Kürzel für Gernrode-Harzgeröder Eisenbahn. Bei der GHE hatte Günther 1948 angefangen - beim Wiederaufbau der nach Kriegsende demontierten Schmalspurstrecke Gernrode-Alexisbad. Heute gilt Günther, der im Mai seinen 74. Geburtstag feiert, als "ältester, noch lebender Streckenarbeiter der GHE", sagt Heiko Fricke, der Leiter des Freundeskreises Selketalbahn. Günther ist seit Oktober 1999 Mitglied des Vereins.
Bei Arbeitseinsätzen könne er nicht mehr mitmischen, aber Geld spende er noch, sagt der Alt-Bahner. "Geld für meine 'Fiffi', denn die braucht auch was zu essen." Die legendäre Dampflok, Baujahr 1914, "war meine Rangierlok, mit ihr bin ich groß geworden", fügt er hinzu. Die Ehrenplastik samt Blumenstrauß kam mit "Fiffi", am 1. April. Da zog das über 90-jährige Dampfross einen kleinen Sonderzug - von Gernrode über Quedlinburg zurück nach Straßberg, zur Jahreshauptversammlung des Vereins. Und hielt in Quarmbeck. Alle (Sonder-)Züge, die seit dem 4. März über die neuen Schmalspurgleise zwischen Gernrode und Quedlinburg rollten, fuhren an Quarmbeck vorbei. Für Horst Günther gab es nun den ersten Halt. Fricke begrüßte den Quarmbecker persönlich - als ersten offiziellen Fahrgast, der am Quarmbach in einen Zug der Harzer Schmalspurbahnen (HSB) stieg. Eine besondere Auszeichnung für ein Urgestein der jüngeren Ostharzer Eisenbahn-Geschichte, eine Ehrung, die Günther vermutlich nie vergessen wird.
Die Anfänge seiner Bahn-Karriere hat er auch nicht vergessen. Eigentlich verdanke er sie "den Russen", gesteht Günther. Denn die hätten ihn, den damaligen Blechschlosser-Lehrling, aus dem Ballenstedter Hermey-Werk "herausgeholt" und zum Gleisbau geschickt. Die erst wenige Jahre zuvor demontierte Trasse wurde wieder gebraucht - für den Transport des Straßberger Flussspats. "Alle Schienen kamen von Truppenübungsplätzen", erinnert sich Günther. Irgendwann schickte ihn der Rottenmeister zum Gernröder Bahnhofsvorsteher. Kadergespräch. Günther wurde Rangierer. Und bald auch Zugführer. "Ich bin vielleicht auffällig gewesen, weil ich Energie hatte", versucht der 73-Jährige den schnellen Aufstieg zu erklären.
Jahre als Springer
Fortan begann mancher Arbeitstag schon um 2.30 Uhr. "Ich habe viel im Sessel geschlafen", erinnert sich Günther. Zumal er "auch noch Landwirtschaft hatte, meine fünf Kinder wollten schließlich was essen". Irgendwann begann dann das "Springer"-Leben: Mal Schrankenwärter, mal Rangierer, dann wieder Gleisbau. "Überall haben sie mich hin verfrachtet." "Ich konnte alles", sagt Günther. "Und habe alles gern gemacht." Am liebsten sei er Rangierer gewesen, die längste Zeit aber Streckenläufer. 22 Jahre.
Von Aschersleben nach Wegeleben, von Wegeleben nach Thale oder von Ballenstedt nach Quedlinburg sei er gelaufen, immer mit prallem Rucksack. Schließlich musste er manchen Mangel an Ort und Stelle selbst beheben. "Wenn der Frost kam, waren Zehen und Ohren kalt", erinnert sich Günther. Ohrenschützer hätten sein Todesurteil sein können. Und die Spezialschuhe hatten zwar Stahlkappen, aber kein opulentes Innenfutter. "Ich bin bei der Bahn ein harter, roher Hund geworden", räumt Günther ein. Fünf Tote habe er im Laufe der Jahre an den Gleisen entdeckt. Und einmal, im Graben, eine ausgebüxte LPG-Sau mit 16 Ferkeln. Für den volkswirtschaftlich bedeutsamen Fund "habe ich nicht einmal eine Flasche Bier gekriegt", ärgert sich Günther noch immer.
Wöchentliches Lästern
Heute kann er nicht mehr gut laufen.. Die "Stecker" sind schwach geworden, gesteht er. Kein Wunder. Über dreimal soll er - rein rechnerisch - die Erde umrundet haben, hat jemand errechnet. Jetzt lässt er sich fahren, zum Beispiel von "Fiffi". Zur wöchentlichen Skatrunde im Gernröder "Schlemmerstübchen" nimmt er den Bus. Und gesteht grinsend: "Ich kann natürlich nicht spielen, aber lästern".