Das Signum der Königin fehlt
THALE/MZ. - Wer sich vor allem für Thales Geschichte interessiert, wird jedoch erst unter dem Dach des Hauses fündig: Das dort untergebrachte Stadtarchiv behütet gedruckte Schätze aus mehreren Jahrhunderten. Als besonderes "Heiligtum" gilt ein Buch, das zwar erst 40 Jahre alt ist, in dem aber trotzdem bisher nur wenige Rathaus-Besucher blättern konnten - das "Goldene Buch" der Stadt Thale.
Die MZ durfte jetzt einen Blick in die schwergewichtige, 35 mal 28 Zentimeter große Chronik werfen, deren Titelseite das Vor-Wende-Stadtwappen ziert. Vor der stilisierten Homburgwarte fliegt noch nicht das langmähnige Hexlein, dafür prangen hier Hammer, Tanne und Zahnrad. Gülden ist lediglich der Schriftsatz, der Einband leuchtet sepia- bzw. falbfarben. Nur ein überraschend kleiner Teil der Büttenpapier-Seiten ist bereits gefüllt - und offenbart eine Mischung aus Gäste- sowie Ehrenbuch. Neben prominenten Besuchern aus dem In- und Ausland erhielten verdienstvolle Bürger der Stadt die seltene Ehre, sich im "Goldenen Buch" verewigen zu dürfen.
Erster Eintrag 1970
Die erste Eintragung stammt aus dem Jahre 1970. Am 21. Jahrestag der DDR beglückwünschten hochrangige Parteifunktionäre "die fleißigen Bürger der Stadt" zur Fertigstellung der Personenschwebebahn. Prominentester Autogramm-Geber war Horst Sindermann, damals noch erster Sekretär der SED-Bezirksleitung Halle, zwei Jahre später bereits DDR-Regierungschef. Der ranghöchste Politiker, der sich zu DDR-Zeiten in das Buch eintrug, war der DDR-CDU-Vorsitzende Gerald Götting, der als Vize-Chef des Staatsrates anlässlich des "Karl-Marx-Jahres" 1983 den "Werktätigen der Stadt für ihren Anteil bei der Stärkung der Republik" dankte. Noch prominenter war allerdings jener Gast, der am 6. Oktober 1977 Thale besuchte: Margot Honecker. Doch die damalige Volksbildungsministerin, die von ihrer vietnamesischen Amtskollegin begleitet wurde, hatte offenbar keine Rathaus-Visite geplant, im "Goldenen Buch" taucht sie nicht auf.
Kapitän und sein Bootsmann
Dafür war die Besatzung der MS Thale mehrfach in den Amtsstuben zu Gast. Am 20. Februar 1971 würdigte der Kapitän den neuen Patenschaftsvertrag zwischen seiner Crew, der Stadt und den Eisenhüttenwerken. Bootsmann Gert Schwahm bekam später eine eigene Seite, nachdem er Thale ein Modell des Schiffes im Maßstab 1:150 geschenkt hatte. Als "langjähriger Fahrensmann" habe es ihm besondere Freude gemacht, den originalgetreuen Nachbau als "bleibendes Symbol der freundschaftlichen Beziehungen" zu basteln. Sein Symbol hat - im Gegensatz zum Originalfrachter, der schon kurz nach der Wende verschrottet wurde - bis heute überlebt und ziert den Archiv-Flur.
Kleinere Kähne bevorzugten die Kanuten, die sich am 12. August 1973 bei den Thalensern bedankten. "Das Training und die Wettbewerbe auf dem Wildwasser der Bode" hätten dazu beigetragen, dass sie alle vier Kanu-Entscheidungen der Olympischen Spiele 1972 (München / Augsburg) gewannen und ein knappes Jahr später im finnischen Tampere Weltmeister wurden. Zu den fünf Top-Athleten, die im Dezember 1974 geehrt wurden, gehörten mit Wolfgang Knochenhauer, Manfred Kowalewski sowie Michael Winkler drei Thalenser. Sie hatten als erste ausländische Seilschaft den 7 105 Meter hohen Pik Korshenewskaja (Tadschikistan) bezwungen. Mit Harald Seifert gelangte im März 1978 ein weiterer Spitzensportler aus Thale in das Ehrenbuch. Seifert hatte mit dem "Schönau-Viererbob" bei den Weltmeisterschaften in Lake Placid (USA) Gold geholt.
Blaublütige Ehrengäste
Mitte der 1980er Jahre wurde das "Goldene Buch" für ein Jahrzehnt geschlossen. Die letzten Eintragungen stammten von DDR-Chefindianer Gojko Mitic, der 1984 sein achtjähriges Bergtheater-Gastspiel beendete und den Thalensern für ihre "Aufgeschlossenheit, Zuneigung und Anerkennung" dankte und von einer Delegation aus der finnischen Partnerstadt Karkilla, auf die Thale einen "starken Eindruck" gemacht hatte. Obwohl in den ersten Nach-Wende-Jahren namhafte Politiker die Bodestadt besuchten, begann die neue Ära im "Goldenen Buch" erst am 20. April 1994 - dafür jedoch mit einem Paukenschlag: Die Gedenkfeier für Axel von dem Bussche-Streithorst, der an diesem Tage 75 Jahre alt geworden wäre, führte eine Hundertschaft blaublütiger Ehrengäste an die Bode. Im "Goldenen Buch" finden sich u. a. die Namen von Gräfin Karin von Dönhoff, von fünf Angehörigen der gräflichen Familie von Hardenberg sowie von sieben Stauffenbergs.
Doch ausgerechnet jene königlichen Gäste, die ein geschichtsträchtiges europäisches Herrscherhaus repräsentierten und der 120-köpfigen Adelsriege vorstanden, unterschrieben nicht - Königin Beatrix der Niederlande und die Prinzen Claus von Amsberg (1926-2002) sowie Constantin von Oranien-Nassau. Dafür konnte Archivarin Antje Löser den Namenszug eines anderen Staatsoberhauptes identifizieren: Ex-Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Gattin Marianne verzichteten allerdings auf die Nennung ihres Adelsprädikates.
Weitere politische Prominenz
Erst zehn Jahre später folgte wieder politische Prominenz. Anlässlich des Harzfestes 2004 verewigten sich Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Wolfgang Böhmer und sein niedersächsischer Amtskollege Christian Wulff. Böhmer unterschrieb am Sachsen-Anhalt-Tag 2009 ein zweites Mal, gemeinsam mit einem ungewöhnlichen Diplomaten-Paar - dem vietnamesischen Botschafter Do Hoa Bihn und der US-Generalkonsulin Katherin Bruckner.
Auch sportliche Top-Ereignisse und deren Akteure hinterließen in dieser Zeit wieder ihre Spuren, zum Beispiel die 7. Etappe der 58. Friedensfahrt, die am 19. Mai 2006 in Thale endete. Etappensieger Lubor Tesar (Tschechien) und "Bergkönig" Przemyslaw Niemec (Polen), der am Hexentanzplatz die letzte Bergwertung der Tour für sich entschied, erhielten glanzvolle Ehrenseiten. Mit drei Thalenser Ex-Fußballkönigen, die im September 1950 mit ihren Stahl-Kollegen das DDR-Pokalendspiel gegen KWU Erfurt gewannen, beginnt 1998 die Reihe der im Buch gewürdigten Ehrenbürger, zu der sich später ein Alpinist, eine Pastorin, ein Maler und ein Kulturmacher gesellten. Eine weitere Gruppe bilden inzwischen die so genannten Ehrenstadträte, die ihre aktive Abgeordnetentätigkeit beendeten.
Die führenden Repräsentanten der aktuellen Partnerstädte Seesen und Juvisy hinterließen ihr Signum offenbar nur auf einschlägigen Urkunden. Warum auch das Gros der Thale besuchenden Bundes- oder Landespolitiker fehlt, weiß Antje Löser nicht zu sagen. Wahrscheinlich reichte die Zeit nur sehr selten für einen Abstecher ins Rathaus. Wer auch immer sich ins "Goldene Buch" eintrug: Niemand habe sich bisher verschrieben, nie kleckste ein Füller, nie schmierte ein Kugelschreiber, berichtet die Archivarin. Neuerdings werden die meisten Texte allerdings mit Computertechnik erstellt und sogar mit dem Foto des Geehrten versehen.