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CDU-Stadtrat Ralph Albrecht CDU-Stadtrat Ralph Albrecht: Trockener Alkoholiker betreibt "Bar 2.0" in Quedlinburg

Von Anne Schneemelcher 04.01.2016, 07:09
Ralph Albrecht ist heute Barbesitzer und CDU-Stadtrat. Bis dahin war es für den Quedlinburger ein langer, harter Weg. Seine Alkoholsucht hat ihn fast das Leben gekostet.
Ralph Albrecht ist heute Barbesitzer und CDU-Stadtrat. Bis dahin war es für den Quedlinburger ein langer, harter Weg. Seine Alkoholsucht hat ihn fast das Leben gekostet. Chris Wohlfeld Lizenz

Quedlinburg - Die Nase über der Rum-Flasche, atmet Ralph Albrecht tief ein. Honig, Zucker und eine Note Karamell entfalten sich - gleichzeitig sammelt sich in seinem Mund Speichel. Würde er die Flasche ansetzen, würde er sie nicht absetzen können. Die hochprozentigen Sachen, die hinter ihm am Tresen stehen, müssen ausschließlich für die zahlenden Gäste da sein. Denn der Karamell-Geruch des 23 Jahre alten Ron zacapa löst bei dem Quedlinburger Erinnerungen an eine Zeit aus, die aus aneinandergereihten Filmrissen besteht. Ralph Albrecht ist trockener Alkoholiker und betreibt ausgerechnet eine Bar.

Ab wann jemand zuviel Alkohol trinkt und eine Abhängigkeit droht, ist von dem Betroffenen abhängig. Für gesunde Erwachsene lassen sich lediglich Grenzwerte nennen, in denen das Risiko gesundheitlicher Schäden gering ist. Diese Grenzwerte liegen nach Angaben der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung für Frauen bei zwölf Gramm und für Männer bei 24 Gramm reinem Alkohol täglich. Dazu sollte man an mindestens zwei Tagen pro Woche auf Alkoholkonsum verzichten. Ein kleines Glas Bier (0,25 l) enthält bei einem Alkoholgehalt von etwa 4,8 Volumen-Prozent ungefähr zehn Gramm reinen Alkohol.

Die Europäer konsumieren weltweit gesehen am meisten Alkohol. Die Durchschnittsmengen pro Jahr sind in den Ländern aber sehr unterschiedlich und reichen von 0,32 bis 14,4 Litern reinem Alkohol pro Einwohner. Besonders viel getrunken wird in Weißrussland und Litauen, am wenigsten in islamisch geprägten Ländern wie der Türkei und Aserbaidschan. In Deutschland wird mit rund elf Litern immer noch vergleichsweise viel getrunken.

Kaum Erinnerungen geblieben

Etwa zu der Zeit, als der junge Rum für die nächsten  Jahre im Lager verschwand, war Albrecht ganz unten. Ein Arzt gab dem damals 21-Jährigen noch drei Monate. „Das war die ungeschminkte Wahrheit und das Ergebnis von sieben Jahren Vollrausch“, sagt der heute 45-Jährige, der keinem Drogen-Cocktail aus Tabletten, Alkohol und dem Lösungsmittel Nuth widerstehen konnte. Zumindest so lange nicht, bis sein Körper rebellierte: keine Reflexe mehr, ein eingeschränktes Sehfeld, Ausfallerscheinungen, Gedächtnislücken - Filmrisse. Die Spuren sind bis heute sichtbar. Wenn Albrecht lacht, blitzen goldene Zahnfüllungen hervor. Acht Zähne waren hin, weil er nur trank und nicht aß. Insgesamt drei Wochen von den sieben Jahren Betäubung kann er grob rekonstruieren - und das erste Mal hat der noch immer hagere Mann vor Augen.

Alkohol gehörte zum Alltag

Damals war Albrecht fünf Jahre alt. Nach einer Party der Eltern kippte er sich die Alkohol-Reste zusammen und war betrunken. Mit Sieben ging es weiter auf Omas Schoß mit Eierlikör; zum elften Geburtstag fand er eine Likör-Flasche Schwarze Johanna in der Gartenlaube seiner Eltern. Mit zwölfeinhalb ließ er Korn und Orangensaftkonzentrat zehn Tage gären. „Es war angenehmer betrunken zu sein, statt den Irrsinn der DDR und der Pubertät zu ertragen.“ Hinzu kam die Perspektivlosigkeit des politischen Systems, die er mit Tabletten und Lösungsmitteln bekämpfte. Für Albrecht gab es keine Aussicht auf einen Studienplatz, die propagierte „heile Welt der Familie“ hielt er für verlogen. „Ich war zu links, um das Land zu verlassen - also habe ich mich mit Alkohol nach innen geflüchtet. Immerhin gehörte der zum Alltag“, erklärt er seinen Einstieg in den Abstieg.

Konsum im Osten war relativ hoch

Auch wenn die DDR Geschichte ist, so hat sich hierzulande nur wenig an der Trinkkultur verändert. Weit über dem Bundesdurchschnitt liegt der Pro-Kopf-Verbrauch an Alkohol. Zudem sterben vor allem in Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt deutschlandweit die meisten Menschen an den Folgen des Missbrauchs. Laut Todesursachenstatistik gab es 2011 insgesamt 35 Alkohol-Tote je 100 000 Einwohner im Land. Der Bundesdurchschnitt lag bei 18 Toten. Alkoholmissbrauch über Jahre erhöht die Wahrscheinlichkeit für chronische und tödliche Erkrankungen wie Herz-Kreislauf-Leiden, Leberschäden sowie Krebs-Neubildungen. Viele, die schon zu DDR-Zeiten übermäßig viel getrunken haben, erhalten dafür jetzt die Quittung. Im internationalen Vergleich war der Konsum im Osten relativ hoch - die Wiedervereinigung war für manche kein Grund, daran etwas zu ändern. „Ein riskanter Alkoholkonsum war auch in den Jahren nach der Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern weiter verbreitet als in den alten“, bestätigt Holger Paech, Sprecher des Sozialministeriums.

Nach dem Mittag folgte der Filmriss

Bei Albrecht ging es mit der Wiedervereinigung erst richtig los. Er versuchte, sich politisch zu engagieren und war als Metallveredler beschäftigt. Aber: „Ich war meist so betrunken, dass ich noch nicht mal wusste, dass ich auf Arbeit war.“ Es folgte die Kündigung und eine Mischung aus Prima-Sprit und O-Saft. Albrecht, der Teil der Grufti- und Punk-Szene war und bis heute nur schwarze Klamotten trägt, lebte eine Weile in Abrisshäusern und auf Sofas von Freunden, ohne sich einzugestehen, dass er obdachlos war. Dann zog er in eine WG, kann sich aber kaum ans Zusammenleben erinnern. „In der Wohnung war immer Party, nach dem Mittag war ich meist so voll, dass darauf der Filmriss folgte“, sagt er. Im Abstand von zwei Stunden musste er nachkippen und rauchen - an Essen war nicht zu denken. „Meine Freunde nannten mich Leiche.“ Doch das war alles andere als witzig, kurze Zeit darauf kam der Befund vom Arzt. „Ich habe von heute auf morgen mit allem aufgehört. Das war 1991.“

25 Jahre trocken ohne Rückfälle

Keine Therapie, kein professioneller Entzug, keine Medikamente. Albrecht wollte das mit sich ausmachen. An das erste Jahr erinnert er sich schemenhaft - doch es war schlimm, niemand habe sowas verdient. Albrecht hat sich dennoch bewusst für den Kaltentzug entschieden: „Ich wollte durch die Hölle gehen, um nie wieder anzufangen.“ Seitdem verzichtet er auf Nikotin, Kaffee und Tabletten. Nur bei Zahn-Operationen macht er eine Ausnahme - nicht aber bei der ständigen Migräne. Dieses Jahr im Mai ist er 25 Jahre trocken - ohne Rückfälle. Diese Willensstärke ist selten. Im Durchschnitt erleiden 40 bis 60 Prozent der Alkoholiker, je nach Behandlungsart, innerhalb von zwei Jahren einen Rückfall, sagt Michael Brütting von den Universitätskliniken Halle.

Betrunkene trinken für Albrecht mit

Nach sieben Jahren feierte Albrecht seinen ersten Erfolg, als er sich zum Test eine Flasche auf den Schrank stellte und widerstehen konnte - Freunde konnten es nicht. Aber für Gäste ist der Alkohol in seinem Haus auch gedacht. Für die meisten Bekannten war er dennoch 15 Jahre von der Bildfläche verschwunden. „Ich musste mich neu erfinden.“ Einfach vor die Tür gehen, fiel schwer - gerade Anfang der 90er. „Die kleine anarchistische Phase 1992/93 habe ich verpasst - genauso wie die Techno-Partys. Ich konnte ja nicht mitfeiern.“ Dank des Sozialsystems hatte Albrecht die Zeit, die er brauchte. Der gelernte Metallveredler machte Umschulungen und zog sich eine Dokumentation nach der anderen rein. „Irgendwann wollte ich wieder am Leben teilhaben“, sagt er. Das war 2005, als er Fahrer für einen befreundeten Musiker ohne Führerschein wurde. Und der hatte zufällig eine Bar. Da musste Albrecht mal aushelfen. Die Arbeit am Tresen in Gesellschaft gefiel ihm. Auch, weil ihn Betrunkene nicht stören. Im Gegenteil: „Irgendwie trinken sie für mich mit, das finde ich sympathisch.“ Wer aber kaum noch bestellen kann, weil er zu betrunken ist, der bekommt keinen Nachschub. „Lieber weniger und dafür hochwertige Sachen trinken“, ist zu Albrechts Devise geworden. Damit ist er erfolgreich.

Entscheidung für das Leben und für Quedlinburg

Nachdem er fünf Jahre lang Barkeeper war, hat er Ende 2014 dann seine eigene Kneipe eröffnet - die „Bar 2.0“. Am Wochenende ist die brechend voll - Albrecht steht bis früh hinterm Tresen und verdient mit der Droge Geld, die ihm damals Alpträume bescherte. So bereichert er die Kneipenszene Quedlinburgs. Die Bar ist für viele zu einer festen Adresse geworden. Zudem sitzt Albrecht seit 2015 im Stadtrat für die CDU. „Ich habe mich für das Leben und Quedlinburg entschieden“, sagt er zu seinem Werdegang vom Alkoholiker zum Geschäftsmann. Ein Schluck könnte ihn alles kosten. Das weiß er. „Ich bereue nichts. Ich habe jeden Rausch in vollen Zügen genossen. Aber ich kann mich beherrschen.“ (mz)

Informationen zu Sucht und Hilfe unter: www.kenn-dein-limit.de

Alkohol: Genuss kann zur Suchtwerden
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