Von Dorf zu Dorf - Kahlwinkel Von Dorf zu Dorf - Kahlwinkel: Blickfang Glockenturm
Die Frau mit der großen Brille weist mir den Weg. Unter ihrer Jacke blitzt die Dederonschürze. Drei-, sogar viermal erklärt sie mir - direkt auf der Straße stehend - die Richtung und lotst mich zur Kahlwinkel Agrar KG. Auch in Dörfern führt nicht jeder Weg zum Ziel. Schließlich sitze ich dann doch im Büro von Roland Braune. Er ist Geschäftsführer des Nachfolgeunternehmens der LPG Kahlwinkel, das nicht nur Schafe und Puten hält, sondern rund 2 300 Hektar bewirtschaftet. Gerste, Weizen, Mais, Raps und Zuckerrüben wachsen auf den Feldern der Finne. Das Motto des Firmenchefs: Der setzt sich durch, der das Geschäft beherrscht. Doch neben Wirtschaftskraft zählen in dem Mehrfamilienunternehmen soziale Tugenden. "Wir arbeiten und leben hier. Deshalb interessiert es uns, was hier passiert. Wir haben immer ein offenes Ohr", betont Roland Braune und erzählt von der Unterstützung für die örtliche Feuerwehr, den Kindergarten oder die Grundschule Saubach. Die Landwirtschaft prägt den Ort in vielerlei Hinsicht.
Wenige Tage später drückt mir Bürgermeister Michael Wiese einen Stapel Postkarten in die Hand. Alle zeigen das gleiche Motiv: Kahlwinkel. Früher für 20 Pfennige verkauft, haben die Karten mit einem Hauch Ostalgie einen ganz anderen Wert. Heute gibt es keine Ansichtskarte mehr vom Ort, in dem die Feuerwehr und das Gemeindeamt unter einem Dach wohnen. Weniger aus Fragen der Sicherheit, als aus Kostengründen, wie Michael Wiese betont. Der 64-Jährige ist seit 2002 Bürgermeister und nutzt das Gespräch, all jene Einwohner zu nennen, die das Dorfleben mit ihrem Wirken besonders prägen. Dabei ist ein Name mit einer Institution im Ort verbunden: Dieter Walter und die Feuerwehr. Mehr als ein halbes Jahrhundert gehört er den St. Floriansjüngern an, war bis letztes Jahr noch Wehrleiter, gab nun den Posten an seinen Sohn Fred weiter und wurde im Dezember 2007 zum Tag des Ehrenamtes ausgezeichnet. Für seinen aktiven Einsatz in der Feuerwehr, die Kahlwinkel einen markanten Stempel aufdrückt. "Ohne Wehr kein Gemeindeleben", bringt es Michael Wiese in eine knappe Formel, ohne die Schattenseiten von Kahlwinkel zu vergessen: alte, leer stehende Baracken als stumme Zeugen der DDR-Zeit und der Jugendclub, der vor wenigen Jahren umgebaut wurde und nun geschlossen ist. "Wir brauchen dafür einen Verantwortlichen", sagt Michael Wiese. Der Gebietsreform schaut der ehrenamtliche Bürgermeister gelassen entgegen. Kahlwinkels Partner sind die Gemeinden Steinburg und Saubach. Und der Name? "Ja, das ist schon ein Problem", bemerkt das Gemeindeoberhaupt.
Aber bald gehört auch dies zur Geschichte, die von Gerlinde Sparka akribisch niedergeschrieben wird. Sie ist seit 1990 die Hüterin der Ortschronik und erzählt zu Beginn zu erst einmal die größte Tragödie, die einem geschichtsbewussten Dorf geschehen kann: "Weit vor meiner Arbeit wurde die erste Chronik verborgt und ist seitdem verschwunden." Sie blättert durch zwei dicke Ordner. Plötzlich fragt sie: "Wissen Sie, warum Bernsdorf und Kahlwinkel seit 1938 zusammengehören?" Schulterzucken. "Die Bernsdorfer wollten keine Hitlereiche pflanzen und wurden deshalb eingemeindet", erklärt Gerlinde Sparka. Ihr Selbstbewusstsein haben sich die Bernsdorfer bewahrt. Seit 2007 weisen Straßenschilder wieder ihren Ort aus.