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Bilanz Bilanz: Deutliches Plus

18.04.2012, 06:49

Freyburg. - Und so rufe ich für die Serie "Mein erstes Mal" bei Renate Schmolz an und merke: So einfach bekommt man bei ihr gar keinen Termin. "In den nächsten zwei Wochen ist mein Kalender rappelvoll. Es sei denn, es springt jemand ab." Ich verkneife mir den Spruch, dass sie es als Wahrsagerin eigentlich vorher wissen müsste, ob jemand abspringt, und gedulde mich zwei Wochen.

Keine Katze auf der Schulter

Ich weiß nicht, ob man es meinen bisherigen Zeilen anmerkt, aber als ich an diesem Dienstag gen Freyburg fahre, ist außer mir noch ein großer Sack Skepsis an Bord. Ich bin weder abergläubisch noch lese ich Horoskope. Und "Benjamin Blümchen" mag ich auch lieber als "Bibi Blocksberg". Doch als mir Renate Schmolz die Tür öffnet, bin ich positiv überrascht. Keine schwarze Miez auf ihrer Schulter, keine von Räucherstäbchen geschwängerte Luft. Die auf den ersten Blick sympathisch wirkende Frau im mittleren Alter weist mich an einen Tisch in der Stube, und nach kurzem Small Talk geht es los.

Ich halte meine Hände unter den Schein einer Bürolampe, und Renate Schmolz vermisst sie mit einem Lineal. Mein Ringfinger ist länger als mein Zeigefinger. "Das heißt, sie haben Organisationstalent, mögen die schönen Dinge des Lebens, sind gesellig und intelligent", wird mir geschmeichelt. So kann's weitergehen.

Danach spricht mein un-steifer Daumen für Flexibilität und mein gekrümmter Mittelfinger für eine Anfälligkeit in puncto Rückenschmerzen. So weit, so un-mystisch. Dennoch sind mir die bisherigen Aussagen zu allgemein gehalten. Ich warte förmlich auf folgenden Dialog: "Haben sie eigentlich Kinder?" "Ja." "Ich kann sehen, dass sie ein Familienmensch sind." Doch auf dieses Niveau steigt Renate Schmolz nicht herab.

Denn jetzt geht's ins Detail und zunächst an meine rechte Hand - "die Vergangenheit". Mit ihren Fingern und dem Lineal erkundet Frau Schmolz meine Lebens-, Herz- und Kopflinie. Und diese sind enorm aufschlussreich: Meine Eltern hatten in meiner Kindheit eine riesige Beziehungskrise (ist mir neu), ich hatte als Kind ein traumatisches Erlebnis am Wasser (nie gehört) und kurz vor der Schule eine stressige Zeit, die an meinem Nägelkauen schuld ist (aha). Ein einschneidendes Erlebnis gab es in der Pubertät (mein Jahr in den USA?), und in der Liebe bin ich mit meiner Frau nach einigen Differenzen nun wieder glücklich (die muss ich verpasst haben).

Adios, liebe Tageblatt-Leser?

Zwischenfazit: Bisher liegt Frau Schmolz weitgehend falsch. Ich sage aber nichts und bleibe interessiert. Schließlich geht es jetzt an meine linke Hand: "die Zukunft". Dort sieht sie, dass ich bald meinen Arbeitgeber wechsle, weil ich ehrgeizig bin und momentan keine berufliche Aufstiegschance habe (vielleicht sind Sie, lieber Leser, mich also bald los). Außerdem hatte ich ja - laut Frau Schmolz - vor kurzem Streit mit zwei Arbeitskollegen, einer davon sei Hutträger (gibt's hier nicht). Finanziell werde ich in einen Umzug in ein längliches Haus (?) auf einem länglichen Grundstück (??) investieren. Zudem wird meine Frau bald mehr Moneten nach Hause bringen, schließlich ist ein gut bezahlter Job für sie extrem wichtig (das wirft ein völlig neues Licht auf sie).

Nichtsdestotrotz landet Frau Schmolz aber auch ein paar Treffer: Dass eine blonde, junge Frau in meinem Familienkreis ständig an mir rummeckert, stimmt (Hallo, liebe Schwägerin). Und, dass bei unserem Ältesten ein Ortswechsel bevorsteht, stimmt auch (ist bei Kindern im Kita- oder Schul-Alter aber keine Sensation). Trotz aller Sympathie für Frau Schmolz haben mich ihre Voraussagen bisher nicht überzeugt. Vielleicht bin ich zu voreingenommen, schließlich habe ich vorher gelesen, dass es für eine hohe Treffsicherheit der verschiedensten Wahrsager (Kartenleser et cetera) noch immer keine wissenschaftlichen Beweise gibt.

Viele Kunden, zumeist Frauen

Und auch Renate Schmolz schätzt den Anteil derer, die skeptisch auf ihren Beruf als Wahrsagerin reagieren, auf mindestens 80 Prozent. Sie hingegen ist sich sicher, dass sie besondere Fähigkeiten hat. "Aus den Händen lesen zu können, ist eine Gabe, die bei uns in der Familie liegt. Das kann man nicht lernen." Sie wurde von ihrer Tante in diese Kunst eingewiesen.

Über mangelnde Kundschaft kann Schmolz, zu DDR-Zeiten in der Verwaltung und in der HO tätig, nicht klagen. Aus dem "Ab-und-zu-bei-Bekannten-aus-der-Hand-Lesen" ist längst ein offiziell angemeldeter Vollzeit-Job geworden. Zehn bis 15 Kunden (etwa 90 Prozent weiblich), oft auch deutlich mehr, hat sie pro Woche. 35 Euro kostet eine Stunde. Manche kommen regelmäßig. Viele sind von den eingetroffenen Prognosen begeistert. "Darunter sind Ärzte, Anwälte, Hartz-IVer oder auch Huren. Alles bunt gemischt und von überall her. Aus Berlin und Nordrhein-Westfalen kommen sie nach Freyburg." Letztens war ein Mann aus Rom bei ihr - mit Dolmetscher.

Ich habe an diesem Dienstag vor allem eins gelernt: Das Geld für Lottoscheine kann ich mir sparen. Frau Schmolz "kann nirgendwo in der Zukunft einen größeren Gewinn sehen". Besser also, ich trag' die Kohle in die Kneipe - und investiere in meine Geselligkeit. Das sagt jedenfalls mein Ringfinger.