Austausch Austausch: Anderer Kontinent zu Gast

lossa - Wo zum Henker sind die Pappeln? Hier waren doch mal Pappeln! Die standen gefühlt um jeden DDR-Sportplatz herum. Wo sind die hin, fragen wir uns, als wir am frühen Sonnabendnachmittag auf dem zugigen Sportplatz in Lossa ankommen. Heute ist Derbyzeit. Nicht in Mailand oder Madrid, sondern in Lossa. In der Kreisliga. Die Eintracht empfängt die Kicker aus dem Nachbarort, die SG Finne Billroda. Ein idealer Start für unsere neue Serie, das Tageblatt/MZ-„Heimspiel“. Was unterscheidet die Sportler der Region von den Profis aus dem Fernsehen? Wir wollen es wissen.
Einen ersten Anhaltspunkt erhalten wir schon fünf Minuten später. Billrodas Coach Willi Aschenbrenner steht vor dem Sportlerheim und wartet. Ob sein Team vollständig wird? Das war zuletzt nicht immer so. Es hagelte Pleiten. Vier am Stück. Ganz anders die Lossaer. 10:0 hatten sie in der Vorwoche die Reinsdorfer „abgefettet“. Fünf Tore hatte Mario Rahaus erzielt. „Auf den Mario müssen wir heute am meisten aufpassen“, sagt Aschenbrenner. Doch was geschieht Sekunden später? Der Eintracht-Goalgetter läuft vom Feld, wo gerade die Lossaer Reserve gegen Molau verliert. In kurzen Hosen. Verschwitzt und dreckig. Wir folgen ihm in die Kabine. „Ich muss auf Arbeit. Kann heute deswegen nur für 70 Minuten in der Zweiten aushelfen“, sagt Rahaus. Als er den Platz verlässt, kommt nicht etwa ein Ersatzspieler für ihn. Wer auch? Doch sein Schichtdienst in Bad Bibras Molkerei geht nun mal vor. Das ist, als wenn Bayern-Star Franck Ribery statt nächste Woche in Dortmund aufzulaufen nur Regionalliga gegen Nürnberg II spielt, weil er es zeitlich nicht anders auf die Reihe bekommt.
Die SG Eintracht Lossa hat 2012 ihr 65-jähriges Bestehen gefeiert und zurzeit etwa 90 Mitglieder. Neben der Abteilung Fußball gibt es noch eine Frauenfitnessgruppe, die von Ina Hoyer geleitet wird. Zum Vorstand gehören neben Chefin Annemarie Schauseil und Stellvertreter Wolfgang Schütze: Kassenwart Ronny Bärhold, Pressewart Mario Rahaus, Jugendwart Ringo Knöbel, Sportplatzwart Rolf Rösler und Schriftführerin Manuela Graf. Um den Kicker-Nachwuchs kümmern sich Sebastian Ludwig und Enrico Plass. Das Training der Talente findet dienstags jeweils 17 Uhr statt.
Fußball in Lossa hat aber noch weitere liebenswerte Eigenheiten. Hier herrscht Männer-Überschuss. „Ja, es scheint, als können wir nur Jungs“, erzählt Annemarie Schauseil. Die Vorsitzende der SG Eintracht ist selbst ein super Beispiel dafür: Sie hat am Montag ihr zweites Kind zur Welt gebracht; ihr Sohn Emil bekam - natürlich - ein Brüderchen, Erik heißt es.
Obwohl: Der Chefposten in Lossa scheint den Frauen vorbehalten zu sein. Vor Annemarie Schauseil leitete lange Jahre Jutta Riese die Geschicke des Vereins. Auch in der Küche des Sportlerheims haben die Frauen das Sagen. Zusammen mit der Chefin schenkt Sementa Wrobel, Frau von Kicker Michael und Schwägerin von Kegler Sebastian Wrobel, Glühwein, Bier und Kaffee aus; außerdem gibt es Bockwurst. Das Vereinshaus ist zum einzigen Treffpunkt geworden, seitdem der Lossaer Wirt Volker Kohlmann seine Gaststätte nicht mehr regelmäßig betreiben kann.
Apropos Sportlerheim: Für die Heimstätte der Eintrachtler war zwei Jahrzehnte lang Helmut Rahaus zuständig. „Ehrenamtlich, versteht sich“, sagt der Onkel des Torjägers. Seit Januar 2012 ist es dem Invalidenrentner jedoch nicht mehr möglich, dort für Ordnung zu sorgen, weil er sich bei einem Sturz auf dem vereisten Zuweg die Wirbelsäule gebrochen hat. Trotzdem ist er jede Woche zu den Heimspielen seines Vereins auf dem Sportplatz und lobt die gute Arbeit von Rolf Rösler, der nicht nur Trainer der zweiten Männermannschaft ist, sondern sich auch um die Pflege des Rasenplatzes kümmert. Der ist immer gut gewalzt und deshalb meist gut bespielbar. Dafür sorgt auch die Windunterstützung durch die fehlenden großen Bäume. „Früher standen hier 105 Pappeln, aber als zwei morsch waren, mussten wir alle fällen“, berichtet der stellvertretende Vereinsvorsitzende Wolfgang Schütze. Sachen gibt’s!
Derweil in der Heimkabine ein heilloses Durcheinander. „Erste“ und „Zweite“ teilen sich den Raum. Die Kämpen der „Zweiten“ greifen schon zum verdienten Lohn in das 20-teilige Qualitätsprodukt aus dem Hause „Köstritzer“. Von der „Ersten“ machen sich Vorstopper Jan „Ballack“ Stieglitz, Linksverteidiger Steve „Stiffler“ Gerhardt und Mittelfeldspieler Karsten „Purzel“ Plass fertig fürs Derby. Da kommt Torhüter Sebastian „Ludi“ Ludwig rein. 90 Minuten hat er bereits bei der „Zweiten“ ausgeholfen. Zehn Minuten Ausruhen, dann geht es bei der „Ersten“ weiter. „Als Torwart ist das kein Problem“, sagt er. Neben ihm sitzt Ronny Fiedler. Auch er, zugleich Vorsitzender des Burschenvereins, hat sein fußballerisches Tagwerk bereits vollbracht. Die 0:5-Klatsche gegen Molau? Der letzte Platz in der untersten Klasse? „Wenigstens treten wir fast immer an. Und für so einen kleinen Ort ist es überhaupt stark, dass wir eine Zweite haben. Nicht mal Nebra als DFB-Stützpunkt schafft das. Das ist doch das Traurige.“ Fiedler selbst unterstützt die Lossaer Nachwuchsarbeit aktiv. Vor zwei Wochen kam Sohnemann Henrik auf die Welt.
Eine Kabine weiter ist der Schiedsrichter des heutigen Kreisliga-Derbys, der Saubacher Steffen Heyse, bereits umgezogen. Er muss heute, wie immer, ohne Linienrichter auskommen. „Kein Problem. Ich bin ja fit, mache dreimal die Woche Sport. Da kann ich schon halbwegs auf Ballhöhe bleiben“, sagt Heyse. Er arbeitet als Betreuer in einer Behindertenwerkstatt in Artern, hat dort sogar eine Behindertenfußballmannschaft gegründet. Ist er gerne Schiri? „Na, klar.“ Und die immer stärkere Respektlosigkeit der Spieler? „Erlebe ich nicht. Der Sportgeist ist schon noch da.“ Und das anstehende Derby? „Ach, früher hätte man da auf der Hut sein müssen. Da war richtig Feuer drin. Aber heute ...“
Heute sind keine 200 Anhänger, wie früher, da. Nicht mal 40. Trotz Derby. Mitte der ersten Halbzeit geht Robert Jecke, Reservist und Mädchen für alles, rum und kassiert Eintritt. 1,50 Euro. Zu denen, die gekommen sind, zählt Roland Riese. Mittlerweile im gesetzten Alter war er einst der gefürchtetste Lossaer Fußballer. „Hättest du gar nicht zählen können“, antwortet er auf die Frage nach seinen Karriere-Toren. Mit 48 Jahren spielte er noch Kreisliga. „Heute nur noch Alte Herren.“ Zwischendurch war er Trainer der Frauenmannschaft, die es inzwischen nicht mehr gibt.
Zuletzt kommt Eintracht-Trainer Hans-Joachim Püschel aus der Kabine. Er musste noch „Dressgeld“ kassieren. Zwei Euro zahlt jeder Spieler fürs Trikotwaschen. Auch einen Strafenkatalog gibt es. Sinnlose Gelbe Karten, etwa wegen Meckerns, kosten 2,50 Euro. Ein Ribery würde da lachen. Aber der verdient ja auch Geld mit Kicken.
Dann beginnt das Spiel. Der erwartete Krimi bleibt aus. Schnell liegt die Eintracht mit 0:3 hinten. Kapitän Stefan Bärhold bringt mit seiner Ballsicherheit zunächst Ruhe ins Lossaer Spiel, wird dann mit jeder Minute lauter, schreit seine Mitspieler an, will sie aufwecken. Umsonst. Nach 90 Minuten steht es 0:7. Obwohl Billroda keinen Wechsler hatte. Was für eine Schmach. Nach 90 Minuten geben sich alle die Hand. Billrodas Thomas Reiche tröstet seine Gegner: „Es gibt solche Tage, da kommen nicht mal Fünf-Meter-Pässe an.“ Ein anderer Billrodaer Sportkamerad hat sogar die passende Analyse für den Spielausgang parat: „Bei euch war fast die ganze Mannschaft gestern Abend bei der Kirmes in Rothenberga und bei uns nur die Hälfte.“
Doch was unterscheidet nun die Fußballer aus Lossa und Billroda von den Stars aus München und Manchester? Die Leidenschaft für das Spiel ist es ganz sicher nicht. Stürmer Arian Gorges steht geknickt am Spielfeldrand und schimpft: „Das war echt Scheiße heute. Kein Einsatz, kein Kampf. So kann man in einem Derby nicht auftreten.“ Das Gleiche hätte sicher auch BVB-Urgestein Kevin Großkreutz nach einer Pleite auf Schalke ins Sky-Mikrofon gewettert.