Trauma nach Suizid Trauma nach Suizid: Nach tragischen Erlebnissen Hilfe finden

Merseburg/Halle (Saale)/MZ - Sie hat ihn nur Sekundenbruchteile gesehen. Dann sprang der Mann vor ihren Zug. „Er war blond, trug ein weißes T-Shirt und eine Sommerhose.“ Über Jahre hat Katrin Wagner diese Bilder nicht mehr aus dem Kopf bekommen. Und obwohl es nicht ihre Schuld war, hat sie sich jahrelang schuldig gefühlt. Erst eine Traumatherapie hat der 34-jährigen Merseburgerin geholfen. Jetzt ist die frühere Lokführerin sogar in der Lage, anderen Menschen in ähnlich schwierigen Situationen beizustehen: Sie gehört zum Kriseninterventionsteam des Malteser Hilfsdienstes Halle und hat gemeinsam mit einem Kollegen nach dem tragischen Straßenbahnunfall auf dem halleschen Marktplatz am 19. Dezember die Einsatzkräfte unterstützt.
„Dabei waren wir eher zufällig da. Wir hatten Dienst an einem Stand auf dem Weihnachtsmarkt und waren gerade dabei uns vorzubereiten, als ich einen gellenden Schrei hörte“, erinnert sich Katrin Wagner. Sie habe nur gedacht, dass etwas Schreckliches passiert sein müsse und ging zur Unfallstelle. „Als ich sah, was los war, habe ich schnell meinem Kollegen Bescheid gesagt, wir haben uns unsere Malteser-Jacken angezogen und einfach geholfen.“ Sie sperrten den Unglücksort vor Schaulustigen ab und kümmerten sich mit um die Menschen, die den Unfall mit ansehen mussten, bei dem ein Mann ums Leben kam. „Ich erinnere mich an zwei, die völlig geschockt waren.“ Sie selbst habe zwar auch die Unfallstelle gesehen. „Aber ich habe einfach nur funktioniert.“
„Man kann das Gefühl nicht beschreiben“
Vor einigen Jahren wäre das nicht möglich gewesen, denn Katrin Wagner war in ihrem Beruf als Lokführerin von Güterzügen gleich dreimal in der Situation, dass sich Menschen ausgerechnet ihren Zug ausgesucht haben, um sich das Leben zu nehmen. In den ersten beiden Fällen passierte es sogar an der selben Stelle, nämlich in Höhe der S-Bahn-Haltestelle München-Haar. In der Nähe befindet sich eine Psychiatrie. „Beim ersten Mal war ich noch in der Ausbildung. Es war nachts und wir waren von München nach Salzburg unterwegs, als es plötzlich schepperte“, erinnert sie sich. Sie habe dann eine Notbremsung gemacht, sei ausgestiegen und habe mit einem Kollegen die Lok abgeleuchtet. „Bis wir den Turnschuh sahen.“ Ziemlich genau ein Jahr später erlebte sie an selber Stelle wieder ein solches Unglück. „Man kann das Gefühl nicht beschreiben, aber ich habe mich nicht so schuldig gefühlt, weil es Nacht war. Ich habe ja vorher nichts gesehen.“
Erst der dritte Selbstmord eines Menschen, den sie miterleben musste, habe sie richtig aus der Bahn geworfen. Es war am letzten Tag vor ihrem Urlaub, eine halbe Stunde vor Feierabend, als es passierte. Auf freier Strecke zwischen Frankfurt und Mannheim.
„Und plötzlich waren sie wieder da, die Bilder“
„Ich wollte damals keine Hilfe, hab’ diese Fahrt noch zu Ende gemacht, meinen Urlaub genommen und bin danach noch ein Vierteljahr weitergefahren“, erinnert sich die 34-Jährige. Erst beim nächsten obligatorischen Simulatortraining sei es passiert: Auf dem Simulator stand ein Auto im Gleis, sie musste einen Nothalt veranlassen. „Und plötzlich waren sie wieder da, die Bilder, und ich bin einfach zusammengebrochen.“
Das war 2009. Lange hat Katrin Wagner, die nie wieder auf eine Lok gestiegen ist, gegen die Schuldgefühle und die Bilder im Kopf gekämpft. „Doch glücklicherweise habe ich eine gute Therapeutin gefunden, die mir gezeigt hat, wie ich mit der Vergangenheit umgehen kann.“ Wie oft habe sie gedacht: Du bist zur Mörderin geworden, Du hast einen Menschen getötet. „Doch jetzt ist das Ende nicht mehr so präsent. Wenn ich heute daran denke, erscheint ein Engel, der den Mann mitnimmt und ihn in Sicherheit bringt.“ Der Unfall auf dem halleschen Weihnachtsmarkt und die Tatsache, dass sie helfen konnte, habe ihr gezeigt, dass sie es geschafft habe. „Das war wie eine Befreiung für mich und gleichzeitig meine größte Prüfung.“
Dem Fahrer der Straßenbahn wünscht sie, dass er Menschen hat, die ihn auffangen, die ihm zuhören, wenn er reden will, und die ihn nicht drängen, wenn er lieber schweigen möchte.