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Spergau Spergau: Leben mit der Raffinerie

Von KATRIN LÖWE 17.02.2010, 20:12

SPERGAU/MZ. - Inzwischen hat sich der Schreck, den die Explosion in der Methanol-Anlage der Raffinerie Leuna auslöste, wieder gelegt. "Es wird nicht das letzte Mal gewesen sein, man muss damit leben, das was passieren kann", sagt Granz, der mit Frau Silvana und zwei Babys in Sichtweite der Anlage lebt. Manchmal riecht es, öfter wird es richtig laut, sagt er. Aber das Haus hat der jungen Familie gefallen vor fünf Jahren.

Viele Millionen Steuereinnahmen

Nur unweit entfernt sitzt Ortsbürgermeister Thomas Scholz in seiner Firma. Seit Ende 2007 ist der parteilose 44-Jährige erster Mann in Spergau. Ihn ärgert oft, dass seiner Gemeinde nur ein Stempel aufgedrückt wird: dank Steuereinnahmen von der Total Raffinerie eine der reichsten in Deutschland zu sein. "Wir Spergauer wissen, dass nicht nur Vorteile entstehen mit so einer Riesen-Industrieanlage im Nacken", sagt er. Als 1985 die heute zur drei Kilometer entfernten Raffinerie gehörende Methanol-Anlage gebaut wurde, mussten Einwohner umgesiedelt werden, damit 300 Meter Abstand zu den Häusern herrschen. Und auch wenn es nach Havarien immer hieß, es habe keine Gefahr bestanden. Und eigentlich könne nichts passieren: "So ist es ja nicht, wie man jetzt sieht."

Natürlich, räumt der Bürgermeister ein, hat die Raffinerie der Gemeinde Etliches eingebracht. Als sie Mitte der 90er gebaut wurde und selbst Baufirmen ihre Steuern in Spergau entrichten mussten, waren das finanziell fette Jahre. Auch von 2004 bis 2008 habe der Ort gut eingenommen: rund 175 Millionen Euro Gewerbesteuern. Davon jedoch, sagt Scholz, seien mehr als 150 Millionen über Umlagen wieder abgeflossen. Und jetzt, wo die Steuereinnahmen zurückgehen, fällt der Gewinn von einst dem Ort auf die Füße: Steuern werden erst zwei Jahre später als Berechnungsgrundlage für Umlagen herangezogen - "wir haben die Einnahmen nicht mehr in der Größenordnung, die wir nun bräuchten." Das Sportlerheim der Fußballer wurde 2009 abgerissen - für einen Neubau fehlte plötzlich das Geld.

In den Jahren zuvor ist noch manches entstanden. 2000 wurde die Spergauer Jahrhunderthalle eröffnet, die mit 2 000 Plätzen fast doppelt so viele Besucher fasst wie der Ort Einwohner hat. Hochkarätiger Sport wie Erstbundesliga-Volleyball zieht Menschen aus der Region an. Und der Spergauer Sportverein hat dank guter Bedingungen 600 Mitglieder. Die Straßen im Ort sind fast alle saniert, Gaststätte, Feuerwehrhaus und Bauhof sind neu. Spergau gründete 2008 vor dem Gang in die Einheitsgemeinde Leuna eine umstrittene 30-Millionen-Euro-Stiftung, von deren Zinsen Vereine des Ortes und des Kreises unterstützt werden. Und die Gemeinde, sagt Scholz, habe immer versucht, die Nachteile durch die Industrie auch bei den Spergauern direkt auszugleichen. Nachdem die staatliche Grundschule geschlossen wurde, gibt es nun eine private - bis 2009 erhielten Eltern die Gebühren vom Ort erstattet.

Zudem wurde die Grundstückssteuer auf Null gesetzt. Eine Tatsache, die auch Rentner Heinz Friedenstein bewusst ist. Dennoch, sagt der 75-Jährige, überwiegen für ihn als direktem Nachbarn der Anlagen die Nachteile. Wegziehen ist keine Alternative - "unser Haus kauft uns doch keiner ab." Andere wollen gar nicht weg. "Wir leben hier schon immer mit der Chemie, das darf man nicht vergessen", sagt Torsten Weise. Und das Sportangebot, Kindereinrichtungen und Gaststätte seien doch - vor allem für Jüngere - auch positive Aspekte, findet Klaus Hartung (56), gebürtiger Spergauer. Abgesehen von den Jobs, auch wenn es längst nicht mehr so viele sind wie zu DDR-Zeiten. "Man muss eben einen Kompromiss finden", so Hartung. Für Scholz wäre das ein Schutzwall, wie er schon einmal geplant war, aber wieder verworfen wurde. Es gehe nicht nur um Lärmschutz, sagt er - "die Belästigung ist geringer geworden". Mehr Sorgen macht ihm, dass in der Methanolanlage giftige Gase entweichen könnten, die schwerer sind als Luft und sich dann schleichend über den Ort legen. Ein Wall würde da helfen. "Mit der Zeit", sagt Scholz, "drängt man die Angst zwar in den Hintergrund. Aber der Teufel schläft nicht".

Gute Nachbarschaftskontakte

Der Teufel? Nein, die Beziehungen zur Raffinerie seien gut, sagt Scholz. Das Werk habe sich immer sehr "volksnah" gezeigt. Zwar hält es sich jetzt beim Stichwort Schutzwall zurück - im Lärmschutz habe es Alternativen gegeben, die greifen -, doch auch Sprecher Olaf Wagner betont die guten Kontakte. "Auf allen Ebenen", sagt er. Total unterstütze per Fördervertrag den Sportverein, es gebe gemeinsame Sportfeste, die Schule wurde mit einem Computerkabinett ausgestattet. "Und der Schutz der Nachbarn hat für uns höchste Priorität."

Trotz allem, ein Stück Angst bleibt. Und wenn Bürgermeister Scholz sich entscheiden muss - ist die Raffinerie Fluch oder Segen -, dann sagt er: Beides irgendwie.