Langeneichstädt Langeneichstädt: Der mysteriöse Kriechgang

LANGENEICHSTÄDT/WÜNSCH/MZ - Es war für die Experten etwas ganz Besonderes. Im Zuge der archäologischen Untersuchungen auf der ICE-Neubaustrecke Erfurt-Halle/Leipzig legten die Mitarbeiter des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie Sachsen-Anhalt 2010 in Wünsch in nur wenigen Zentimetern Tiefe ein 1 500 Quadratmeter großes Reihengräberfeld aus dem Hochmittelalter, also dem zehnten bis zwölften Jahrhundert, frei. Mit rund 200 Bestattungen handelte es sich um eines der größten Gräberfelder dieser Zeit, die in ganz Mitteldeutschland bisher entdeckt wurden.
Das, was die Expertengesichter zum Strahlen brachte, war vor allem der Umriss eines rechteckigen hölzernen Sakralbaus von zehn mal zehn Metern Größe unmittelbar am Bestattungsplatz. Es war im mitteldeutschen Raum erst der zweite Nachweis für einen Holzbau aus jener Zeit, der ganz offenbar für religiöse Zwecke diente. „Ich habe schon viel gesehen. Aber diese Grabung wird mir mit Sicherheit in Erinnerung bleiben. Funde wie dieser bereichern den Archäologenalltag ungemein“, hatte Grabungsleiter Eric Müller gesagt.
Noch viel Arbeit zu erledigen
Tatsache ist, dass Gräberfeld und „Kirche“ den Archäologen bis heute beschäftigen. Gerade schreibt er seine Doktorarbeit über einen Vergleich mit einem ähnlichen Gräberfeld, das bei Halle-Queis entdeckt wurde. Das erzählte jetzt Helge Jarecki, Mitarbeiter beim Landesamt und damals Projektkoordinator, in Langeneichstädt bei einem vom Heimatverein organisierten und sehr gut besuchten Vortrag über die Archäologie an der ICE-Trasse zwischen 1994 und 2011. Überhaupt liege noch sehr viel Arbeit vor seinen Kollegen, die die Funde von damals etwa im Rahmen von Examensarbeiten nach und nach auswerten, so Helge Jarecki weiter. Als Beispiel nannte er drei Einstiegslöcher in einen 60 Zentimeter hohen und 40 Zentimeter breiten Kriechgang, die die Archäologen bei der weiteren Untersuchung unter dem Sakralbau fanden. „Eine irre Geschichte“, meinte der Fachmann. Wozu diente der Gang? Warum befanden sich die Ein- und Ausstiege sowohl innerhalb wie außerhalb des Gebäudes? Das seien noch unbeantwortete Fragen.
Auf ein ganz anderes spannendes Thema machte der Archäologe dann am Beispiel der Fundstelle zwischen Oechlitz und Langeneichstädt aufmerksam. Man habe gefundene prähistorische Grubenreihen mit den heutigen Flurgrenzen zwischen beiden Orten verglichen - und einen identischen Verlauf festgestellt. Die Frage sei nun, was diese Stelle nahe des Bachs Stöbnitz viele Jahrhunderte lang so markant gemacht habe. Ein Wall vielleicht? Eine Baumreihe, anhand derer sich eine Teilung der Flurstücke anbot?
Ein anderer herausragender Fund dieser Grabungsstelle hat es mittlerweile bis in die Dauerausstellung des halleschen Landesmuseums für Vorgeschichte gebracht: Ein Teilstück eines Handelsweges aus der Mittelbronzezeit, also 1 600 bis 1 300 vor Christus. Auf 400 Meter dieses Weges, auf dem noch immer Wagenspuren zu erkennen sind, waren die Archäologen gestoßen. „Eine Riesenausnahme“, so Helge Jarecki. „Ein ganz großer Hit.“
Ungeklärte Fragen
Diente der Weg hauptsächlich zum Transport der damals so wertvollen Sole und dem daraus gewonnenen Salz? Haben die Fachleute in Oechlitz/Langeneichstädt viel mehr Funde aus der Früh- und Spätbronzezeit ans Tageslicht gebracht als aus der Zeit dazwischen, weil die hiesige Landschaft durch die Solegewinnung zuvor ökologisch stark ausgebeutet wurde und eine Ruhephase benötigte? Und könnte dieser Weg südlich bis nach Thüringen und nördlich bis Lüneburg geführt haben? Immerhin kennen die Archäologen ebenfalls durch die Ausgrabungen im Vorfeld der ICE-Trassenarbeiten eine große Siedlungsfläche bei Wennungen. Und sie haben bei bronzezeitlichen Bestattungen in Oechlitz/Langeneichstädt Schmuck entdeckt, der für die Lüneburger Region typisch ist.
Es gebe noch viel mehr zu erzählen über die Höhepunkte der Archäologie an der ICE-Trasse, meinte Helge Jarecki zum Schluss seines Vortrags. Neugierige verwies er auf eine Veröffentlichung des Landesamtes für Denkmalpflege und Archäologie, die in Arbeit sei. Einen genauen Erscheinungstermin könne er aber nicht nennen.