Heim Lambarene in Merseburg Heim Lambarene in Merseburg: Leben allein bleibt Wunsch
Merseburg/MZ. - Anja legt Kekse auf jeden Teller auf dem Kaffeetisch, während im Garten des Heimes das Planschbecken wartet. "Leichte Aufgaben können unsere Kinder erledigen. Sich anziehen, waschen und im Haushalt helfen", sagt Albrecht. "Sie sind recht selbstständig. Manchmal fast zu sehr", sagt sie und lächelt. Karsten konzentriert sich nicht aufs Essen und spielt mit einem Plastikauto. Britta, mit 18 Jahren die Älteste der sonst Acht- bis 15-Jährigen, würde lieber kuscheln, die 55-jährige Erzieherin ermahnt sie.
"Britta muss man oft in die Schranken weisen", sagt sie. Immer wieder sucht die junge Frau Nähe - über die Bedürfnisse ihrer Mitmenschen hinaus. Sie muss langsam auf den Wechsel in die Erwachsenen-Gruppe vorbereitet werden. Obwohl die Betreuer jeden Tag alles geben und versuchen, die Kinder und Jugendlichen auf ein möglichst selbstständiges Leben vorzubereiten, bleibt es trotzdem eher ein Wunsch, dass sie einmal ohne fremde Hilfe leben können.
"Behinderte brauchen stärker eine Bezugsperson", schildert Albrecht. Doch wirken einige der Kinder nicht behindert. Wie die kleine Stefanie mit dem frechen Kurzhaarschnitt. Ihr ist nicht wichtig, ob ein Gesichtsausdruck von geistiger Behinderung geprägt ist. Oder der neunjährige Martin. Erst seit sechs Wochen im Heim, weiß er überall bescheid. Holt seine Badesachen, wirft sich das Handtuch über und marschiert gen Garten.
Die Formen geistiger Behinderungen können durch die unterschiedlichsten Ursachen hervorgerufen werden. Sowohl durch Erbkrankheiten, genetische Veränderungen, Unfälle als auch Drogenkonsum während der Schwangerschaft, schildert Sabine Schlegel, Leiterin des Heimes. Auch bei den Gruppengeschwistern ist dies so. Gerade geistig behinderte Kinder benötigen von Anfang an intensivste Förderung, so die Leiterin. "Das ist eine enorme Aufgabe und Leistung, die viel Kraft benötigt, welche manche Eltern, obwohl sie es oft wollen, nicht immer aufbringen können." Es gäbe Eltern, die jahrelang alles dafür tun und sämtliche Kraft aufopfern, um mit ihrem behinderten Kind zu leben. Doch die sich dann durchringen, es in einem Heim unterzubringen. Weil es dort mehr Möglichkeiten gibt, und den Eltern die Kräfte ausgehen. Denn trotz Förderung werden einige der Gruppe auf dem Niveau von Vorschulkindern bleiben.
"Grenzen müssen sie immer wieder aufs Neue gezeigt bekommen." Alles lernen sie langsamer, manches, was selbstverständlich scheint, nie richtig. Dennoch lernen sie mehr als die zweite Kindergruppe im Heim, die auf der selben Etage, eine Tür nebenan zu Hause ist und wo auch Schwerstbehinderte leben. Doch auch mit ihnen gehen die zehn unbedarft um. Schieben zum Beispiel Daniel im Rollstuhl vielerorts mit hin. "Wir sind jeden Tag draußen", sagt die Betreuerin. Vormittags gehen die Kinder zur Schule für geistig Behinderte. Nachmittags stehen ein Spaziergang, Einkaufsbummel oder eben Baden auf dem Programm.
Am Planschbecken rangeln sich Sandra, Susanne und Michael darum, wer als erster ins Wasser darf. Michael wirft ärgerlich mit einer Plastiktasse, die scheppernd auf dem Boden zerbricht. Karsten ist das zu viel, er schaukelt auf dem Spielplatz. Ruft zwischendurch und plappert euphorisch von Abenteuern mit Schlangen.
Die 31-jährige Manuela Starke, an diesem Nachmittag die zweite Kraft an Albrechts Seite, schmunzelt. "Karsten hat die Schlangen zum Kinderfest gar nicht angefasst." Nur Matthias habe sich das getraut, als Dompteure mit Reptilien und Schimpansen im Heim aufgetreten sind. "Für uns sind sie alle normal", sagt Starke. "Wenn ich beim Arzt für ihre Mutter gehalten werde, ist das okay."
Für die Erzieher ist Behindertenpflege mehr als ein Job. In vielen der großen, hellen Zimmer finden sich kleine private Aufmerksamkeiten der Betreuer. Anja hat ein eigerahmtes Foto der neun Monate alten Jasmin, die Enkelin von Edeltraud Albrecht, an ihre Zimmerwand gepinnt. Wenn die gelernte Kinderkrankenschwester das Mädchen nicht ab und zu sowie zu Weihnachten mit nach Hause nehmen würde, würde die hochgeschossene 15-Jährige mit den braunen Augen nicht wissen, was eine Familie ist. Denn ihre Mutter kann sich nicht um sie kümmern und lebt in einem Heim bei Hamburg.
"Natürlich ist die Arbeit manchmal anstrengend, eine nervliche Belastung", erzählt Albrecht. "Aber wenn ich persönlich ein Tief habe, geben die Kinder mir wieder Kraft. Ihr Verhalten ist echt. Verstellen können sie sich nicht." Wie lebendig die Gruppe ist, bezeugt die Vorbereitung zum Abendessen. Schlafanzüge suchen, waschen, umziehen, auf den Platz am Tisch setzten, im Nachbarzimmer ums Spielzeug streiten, den Fernseher belagern.... Wer sie beobachtet und nimmt, wie sie sind, vergisst die Handicaps der "Kleinen Prinzen", denn, so de Saint-Exupery: "Das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar."