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Explosion von Ofen 11 Explosion von Ofen 11: Wie sich die Katastrophe in der DDR-Chemiefabrik angekündigte

Von Michael Bertram 08.02.2020, 07:00
Ein Foto aus dem Bestand des Landesarchivs dokumentiert das Loch, dass die Explosion des Karbidofens in die Wand der Fabrik gerissen hat.
Ein Foto aus dem Bestand des Landesarchivs dokumentiert das Loch, dass die Explosion des Karbidofens in die Wand der Fabrik gerissen hat. Landesarchiv, MER, I 529, FS Nr. FN A 8457-18

Schkopau - Es ist 8.33 Uhr, als zwei unmittelbar aufeinanderfolgende Detonationen das Ofenhaus L17 im Buna-Kombinat in Schkopau erschüttern. Zeugen schildern wenig später eine dunkelgraue Wolke aus Staub mit glühenden Ascheteilchen, die sich in rasender Geschwindigkeit ausbreitet und schließlich die ganze Karbidfabrik umhüllt. Kurz zuvor war der völlig auf Verschleiß gefahrene Ofen 11 explodiert.

Gewaltige Explosion des Karbidofens: Staubwolken und glühende Karbidschmelze

Bis in weite Entfernung ist die Rauchsäule zu sehen, die am 9. Februar 1990 nicht nur fünf Menschen das Leben kostete, sondern auch das Ende der einst größten Karbidproduktion Europas besiegelte. „Es war Frühstückspause, als ich mich entschied, schnell rüber zur Hauptkasse zu fahren und Geld zu holen“, erinnert sich Herbert Dräger (Name geändert) an den Moment, der ihm womöglich das Leben rettet.

Denn als der damalige Buna-Mitarbeiter nur 20 Minuten später zurückkehrt, sieht er das blanke Chaos. Die gewaltige Explosion des Karbidofens hat in die Wand der Fabrik ein Loch gerissen. Drinnen steht die mächtige Staubwolke, der Boden ist mit glühender Karbidschmelze aus dem Ofen überzogen.

Fotos der Kriminaltechnik halten Ausmaß der Zerstörung fest

Bis heute festgehalten hat die Zerstörungen Manfred Pausch. Er war damals für die Kriminaltechnik als Fotograf nach Buna geschickt worden. „Innerhalb weniger Stunden musste immer eine Sofortmeldung raus mit drei Fotos vom Unglücksort“, erinnert er sich. Nachdem die Feuerwehr das Ofenhaus freigegeben hatte, konnte er jene Aufnahmen machen, die das Ausmaß der Zerstörung dokumentieren.

Pausch zieht die Abzüge aus dem Kalender des Jahres 1990. Sie zeigen das Ausmaß der Zerstörung auf dem Deck des Karbidofens. Auch ein Foto, das kurz nach der Explosion entstanden sein muss, besitzt er noch. Darauf zu sehen ist ein Feuerwehrtrupp, der versucht, sich Zutritt zu dem Ofenhaus zu verschaffen.

Nach der Explosion des Ofens werden drei Tode am Unglücksort geborgen

Während ein Feuerwehrmann bereits einen hitzebeständigen Schutzanzug trägt, wird ein zweiter für die Erkundung gerade damit ausgerüstet. „Um die Explosion aufzuklären, war ich noch Monate später dort, um für die Ermittler bestimmte Details zu fotografieren“, erinnert sich der heute 84-Jährige.

Ein Bild, dass sich ins Gedächtnis von Herbert Dräger eingebrannt hat, ist jenes der Leiche eines Karbidkumpels, die er erblickt, nachdem sich die Staubwolke allmählich verzogen hat. Die Werkfeuerwehr, die nur eine Minute nach der Explosion des Ofens am Unglücksorts eintrifft, birgt später insgesamt drei Tote.

Insgesamt fünf Tode und 23 Verletzte mit Verbrennungen, Prellungen und Verätzungen

Es sind die leblosen Körper des Schichtleiters, eines Fahrstuhlführers und eines Studenten. Wegen des glühend heißen Materials, das bei der Explosion freigesetzt wurde, hatten sie nicht den Hauch einer Überlebenschance. Der Untersuchungsbericht beschreibt Rundumverbrennungen an den Körpern, an denen sich keine Kleidung mehr befande.

Am Ende steigt die Zahl der Todesopfer auf fünf: In der darauffolgenden Nacht erliegen im Krankenhaus auch noch ein Ofenbrigadier und ein Deckmann ihren schweren Verletzungen. 23 Arbeiter müssen zudem wegen Verbrennungen, Prellungen und Verätzungen behandelt werden.

Eine Million Tonnen Karbid in Spitzenzeiten, mit hohem Verschleiß

Ausgelöst wurde die Katastrophe, die sich im Vorfeld durchaus angekündigt hatte, zwar durch einen Bedienfehler, die eigentlichen Ursachen liegen jedoch tiefer.
Bereits Ende der 1930er Jahre errichtet, schwingt sich die Fabrik innerhalb der folgenden 20 Jahre zum wichtigsten Erzeuger von Karbid in ganz Europa auf.

In Tausende Grad heißen Öfen wurde dort aus Kohle und Kalkstein Karbid geschmolzen - ein wichtiger Grundstoff für Plastik, Chemiefasern und Autoreifen. Bis zu eine Million Tonnen schaffte die Fabrik in Spitzenzeiten.
Die Kunststoffproduktion der DDR lief so zwar unabhängig vom teuren Erdöl, die insgesamt zwölf Öfen im Buna-Kombinat wurden jedoch auf Verschleiß gefahren.

Harte Arbeitsbedingungen: Karbidkumpel litten unter Hitze und Staub

Weder auf Auswirkungen auf die Umwelt noch auf die Gesundheit der Arbeiter wurde groß Rücksicht genommen. So erinnert sich Herbert Dräger etwa daran, dass die Karbidkumpel Holzschuhe mit Gummisohlen trugen. Diese hatten allerdings nicht lange Bestand. Auf den heißen Eisengittern der Öfen, auf denen sich die Arbeiter bewegten, schmolzen die Sohlen ihnen quasi unter den Füßen weg.

Noch viel mehr litten die Arbeiter unter dem Staub und der enormen Hitze. Einige ertrugen die harte Arbeit offensichtlich nur mit Alkohol. Bei zwei Todesopfern vom Februar 1990 wurden Promillewerte von 1,9 und 0,8 festgestellt.
Die Öfen selbst wiesen zahlreiche Mängel auf.

Im Zuge der Aufrüstung in den 1930er Jahren suchten die Nationalsozialisten nach einem Standort für die Rohstoff-Produktion auf synthetischem Weg. Schon damals stand dabei vor allem der Kautschuk im besonderen Fokus. Am 25. April 1936 wurde der Grundstein gelegt für die erste großtechnische Anlage zur Kautschukproduktion, die im darauffolgenden Januar schließlich ihren Betrieb aufnahm.

Nach dem Krieg, in dem auch das Werk Schäden verzeichnete, wurde die Produktion wieder hochgefahren. Zwölf Öfen versorgten den Standort mit bis zu einer Million Tonnen des Rohstoffs Karbid - und verpesteten die Region mit 20.000 Tonnen Kalkstaub. Die Katastrophe am Ofen 11 besiegelte das Ende der völlig maroden Fabrik. 1991 wurde der letzte Ofen heruntergefahren. Wenig später wurde die Fabrik gesprengt.

Ofen 11 hatte Probleme und sollte stillgelegt werden

Besonders tragisch: Unglücksofen 11 sollte, so geht es aus dem Untersuchungsbericht zu der Explosion hervor, im Mai 1990 endgültig stillgelegt und demontiert werden. „Davon wussten wir gar nichts“, betont Dräger. Der Bericht listet enorme Schäden an dem Ofen, einer der ältesten in der Fabrik, auf. Wegen Rissen und einem undichten Kühlsystem musste die Werkleitung alle vier Wochen bestätigen, dass der Ofen noch sicher betrieben werden kann.

Die letzte Freigabe erfolgte am 2. Februar, also genau eine Woche vor dem Unglück. Bereits zwei, drei Tage vorher machte die Anlage Probleme. Die Schmelze floss nicht richtig ab. Die Arbeiter konnten keinen Abstich vornehmen. Statt den Ofen angesichts der außergewöhnlichen Probleme runterzufahren und abkühlen zu lassen, experimentierte man, drosselte die Leistung oder fuhr sie wieder ganz hoch.

Entstehen eines hochexplosiven Gasgemischs

Parallel wurde auch die Gasabsaugung abgestellt.
Am 9. Februar 1990 kurz nach 8 Uhr setzen die Arbeiter am Ofen 11, die Elektrode in dem Lichtbogenofen in Bewegung. In der Folge kommt es zu einem unbemerkten Wassereinbruch, „verbunden mit einer spontanen Wasserverdampfung, chemischen Reaktionen und dem Entstehen eines hochexplosiven Gasgemischs“, wie es im Untersuchungsbericht heißt.

Ergänzend stellen Experten der Technischen Hochschule Leuna-Merseburg, die als Sachverständige eingesetzt waren, fest, dass schon zehn Liter Wasser ausreichen, um in dem heißen Karbidofen innerhalb kürzester Zeit 80 Kubikmeter Wasserdampf zu bilden - mit fatalen Folgen, für alle, die sich in diesem Fall in der Nähe des Ofens aufhalten.

Auch wenn an jenem Tag Tausende Schutzengel über Herbert Dräger wachten. Die Ereignisse kann er bis heute nicht vergessen. Die Bilder der zerstörten Fabrik werden ihn für immer begleiten. (mz)