Zu Weihnachten gab es den letzten Braten
KÖTHEN/MZ. - Wenn, dann waren es kurzzeitige Beschäftigen über ABM oder Ein-Euro-Jobs. "Wir sind beide auch noch chronisch krank, dürfen also nicht alles machen", erzählt Marina Richter. Bisher ging es irgendwie, trotz Schulden.
Aber im Februar gab es dann plötzlich 116 Euro weniger vom Arbeitsamt. Angeblich sollen die Eheleute irgendwo ein Guthaben haben. Marina Richter weiß davon nichts. Sie weiß nur, wie schmerzhaft das Fehlen des Geldes ist. "Das macht schon viel aus", sagt die Köthenerin. Vor allem aber kann sie den plötzlichen Zahlungsstopp den Gläubigern nicht erklären. "Als Privatperson wird man da abgewiesen", sagt die 56-Jährige.
Dann habe ihr Mann einen Artikel über den Verein N.O.T. - Nothilfe ohne Tabu, in der Zeitung entdeckt. "Das war ein Wink des Himmels", sagt Frau Richter erleichtert. Sie haben sich an Peter Riedmann gewendet, der Betroffenen in den Räumen der "Nothilfe ohne Tabu" in Köthen, Augustenstraße 39 bis 42, Hilfe anbietet. Gegründet wurde N.O.T. vor sechs Jahren in Halle, Vorsitzender ist Dr. Klaus-Helmut Rintz, ein ehemaliger Hochschullehrer. Sein Stellvertreter, Reiner Schock, ist Rechtsanwalt.
Der Verein auch in Köthen präsent
Seit diesem Jahr gibt es "N.O.T" nun auch in Köthen. Die Mitglieder kümmern sich darum, Schuldnern einen Weg aus der Schuldenfalle zu zeigen, ohne eine offizielle Schuldnerberatung zu sein. Der gemeinnützige Verein finanziert sich durch Spenden und aus den Unkostenbeiträgen für Vorträge, die gehalten werden. "Alle anderen Kosten tragen die rund 50 Vereinsmitglieder, die ihre Arbeitskraft und ihr Wissen der Sache zur Verfügung stellen", erklärt Peter Riedmann. Der Aufgabenbereich ist breit gefächert: Die Mitglieder beraten inhaftierte Schuldner in Justizvollzugsanstalten, sind beratend bei der Erstellung von Vorsorgevollmachten und Patientenverfügungen tätig, helfen beim Verfassen von Schriftstücken und zeigen älteren Menschen auch Wege auf, wie sie ihren Lebensabend zu Hause verbringen können und eben nicht unbedingt in ein Pflegeheim müssen. "Bei gut organisierter Pflege können sie oft bis zum Tod in ihrer gewohnten Umgebung bleiben", erklärt Riedmann. Die meisten Leute allerdings, die zu ihm kommen, haben Probleme mit ihren Schulden, wie Familie Richter. Täglich führt er fünf bis sechs solcher Gespräche. Der studierte Jurist macht dann zunächst eine "Bestandsaufnahme", fragt nach dem Einkommen der Ratsuchenden und listet auf, wem sie was schulden.
Im Falle von Familie Richter sind es etwa 900 Euro, die ihnen monatlich zur Verfügung stehen. Davon müssen unter anderem die Miete für die 56 Quadratmeter große Wohnung, Strom, Versicherungen, Kabelanschluss und Riester-Rente bezahlt werden. "Einen Hund haben wir auch noch. Der kostet natürlich auch", erzählt Frau Richter. Das ist aber so ziemlich der einzige "Luxus", den sie sich leisten. Am Ende bleiben ihnen 300 Euro zum Leben. Die letzte Erhöhung des Hartz-IV-Satzes macht sich im Portemonnaie der Eheleute Richter kaum bemerkbar, zumal die Erhöhung von einem Euro durch die Bedarfsgemeinschaft auch noch geteilt wird.
"Da bleiben für jeden 50 Cent", rechnet sie vor. "Man kann sich schon jetzt nichts mehr leisten. Und alles wird immer noch teurer." Den letzten Braten habe sie zu Weihnachten gegessen. Im Urlaub ist die Familie das letzte Mal gewesen, als die drei Kinder noch klein waren. Wie lange das her ist? Frau Richter kann sich nicht erinnern. "Ich weiß gar nicht mehr, was das ist: Urlaub." Überhaupt, es mache "keinen Spaß mehr", so die 56-Jährige, die vor der Wende als Reinigungskraft und Näherin gearbeitet hat, resigniert. "Wenn ich da manchmal meine Tochter nicht gehabt hätte. . .", sagt sie und stockt.
Viele verdrängen das Problem
Knapp 3 000 Euro Schulden haben sich über die Jahre angehäuft, zum Teil noch Altschulden aus den 90er Jahren. Darunter ist aber auch eine Forderung der GEZ - obwohl sie davon als Hartz-IV-Empfänger eigentlich befreit sein sollten. Doch das Ehepaar soll etwa 300 Euro zahlen. Nun hat Peter Riedmann ein Schriftstück verfasst, in dem er um eine niedrige Ratenzahlung bittet. So macht er es mit allen Schuldnern. Er nimmt Kontakt zu den Gläubigern auf und versucht, eine Einigung über die Ratenzahlung zu erzielen.
Viele, so seine Erfahrungen, öffnen die Post von Behörden, Banken oder Anwälten nicht, beziehungsweise reagieren nicht darauf. Zum einen liege das an der rechtlichen Unkenntnis. Zum anderen versuchten die Leute damit, das Problem zu verdrängen. "Die denken: Wenn ich nicht reagiere, passiert schon nichts", berichtet Riedmann. Aber den Kopf in den Sand stecken, sei auch keine Lösung: "Dann überrollen einen die Ereignisse irgendwann." Meist seien es kleine Beträge. "Doch für manche ist eine Schuld von 200 Euro ein unüberwindbares Hindernis", weiß der 67-Jährige, der immer wieder erschüttert ist über die einzelnen Schicksale. Aber er versucht mit seinen Mitteln, den Menschen aus ihrer Notlage herauszuhelfen.
Ratsuchende können sich unter Telefon 03496 / 21 25 48 an Peter Riedmann wenden