Köthen Köthen: Jenseits der Langeweile
köthen/MZ. - Ein Gästeführer lebt nicht nur von historischen Fakten. Er lebt ebenso oder fast noch mehr von heiteren historischen Anekdoten. Christian Ratzel weiß dies nur allzu gut - immerhin ist er in Köthen regelmäßig als Stadtbilderklärer unterwegs, und egal, welche klientel er dabei gerade bedient, eine witzige Geschichte gibt der ganzen Daten- und Tatsachensammlung die heitere Note. Und so ließ es sich Ratzel auf dem 3. Anhaltischen Gästeführertag in der Europäischen Bibliothek für Homöopathie bei seinem Vortrag nicht nehmen, diese und jede Schmonzette einzustreuen.
Zum Beispiel die vom Theater-Mond, der sich nicht heben lassen wollte. Dumm nur, dass im Publikum nicht Hinz und Kunz saßen, sondern Herzog Ferdinand mit seinen Gästen, dem König von Preußen und dem König von Sachsen. Die es mit eigenen Ohren hörten, als der Bühnenmeister in der Kulisse verzweifelt-wütend ausrief: "Das Drecksding will nich hochjehn!" Der preußische König soll gelacht haben, von den Reaktionen der beiden anderen Potentaten ist nichts übermittelt.
Was Ratzel damit auf alle Fälle übermittelte - ganz abgesehen vom Legendencharakter der Geschichte - war folgende Botschaft: Stadtführungen dürfen nicht langweilig sein. Dies zu beherzigen sollte freilich ohnehin zu den goldenen Regeln der Gästeführer-Innung gehören. Der dritte anhaltische Gästeführertag war in dieser Hinsicht eine Fortführung früherer gleichgelagerter Veranstaltungen. "Wir haben in unserem Adressbuch einen Pool von etwa 120 Gästeführern in Anhalt", so Lutz Osterland von der KKM, einer der Organisatoren des Treffens. "Ziel ist es, möglichst vielen davon Informationen auch über andere anhaltische Städte zukommen zu lassen, die dann in eigene Stadtführungen einfließen können."
In Köthen waren diesmal 32 Gästeführer mit von der Partie - etwas wenig, wie Osterland fand, "das kann aber daran liegen, dass die Gästeführersaison schon angefagen hat und die Eingeladenen an einem Sonnabend viel zu tun haben."
Diejenigen, die gekommen waren, mussten ihren Ausflug nach Köthen nicht bereuen - und manch einer konnte vielleicht tatsächlich Informationen mit nach Hause nehmen, die vorher unbekannt waren. Zum Beispiel, dass Köthen bei der lange vorher ausgehandelten, 1606 umgesetzten Erbteilung zwar der kleinste anhaltische Landesteil war, aber gleichzeitig als reichster bewertet wurde - mit immerhin 375000 Reichstalern. Köthen war damals die bevölkerungsreichste Stadt Anhalts.
Oder, dass ohne Gisela Agnes Bach vermutlich gar nicht nach Köthen gekommen wäre. Gisela Agnes hatte dafür gesorgt, dass Köthen eine lutherische Kirche bekam, St. Agnus nämlich. Der überzeugte Lutheraner Bach wäre kaum in einen Ort gezogen, wo es nur eine reformierte Kirche, St. Jakob nämlich, gab. Oder, dass der 1818 verstorbene letzte Fürst aus dem Haus Anhalt-Köthen-Plötzkau gar obduziert wurde, um eine Vergiftung auszuschließen.
Christian Ratzel ging tatsächlich, wie eingangs des Vortrags angekündigt, in einer "Tour de Force" durch die Köthener Geschichte. Das freilich ist nicht die übliche Gangart von Gästeführern. Die gehen gemächlich durch Raum und Zeit. Geschichte will immer auch verdaut werden.