Erinnerung Erinnerung: Mit der Skizze zur Spinndüse

Köthen/MZ - Als er kürzlich in der MZ die Geschichte von Fritz Dolge las, wurden bei Dr. Ernst Horn (91) Erinnerungen an seine Zeit als Leitender Chirurg im Köthener Krankenhaus wach. Die Gröbziger Spinndüse, in der Dolge lange Zeit tätig war, habe dem Krankenhaus oft uneigennützig geholfen, schilderte der Mediziner daraufhin der Mitteldeutschen Zeitung.
Zu seiner Zeit am Krankenhaus sei es üblich gewesen, eine Woche lang an eine Uniklinik zu gehen, um sich dort über Neuigkeiten in der Medizinforschung und -technik zu informieren. Er selbst sei damals an den Unis in Leipzig und Rostock, aber auch an der Charité Berlin gewesen, erzählt der Mediziner im Ruhestand.
Bei einem dieser Studienaufenthalte fiel Ernst Horn ein Dermatom auf. Das ist ein chirurgisches Schneidinstrument, mit dem Hautlappen bei der Transplantation so homogen geschnitten werden können, dass der Chirurg aus einem relativ kleinen Stück Eigenhaut vom Patienten ein Netzgewebe erhält, mit dem zum Beispiel großflächige Verbrennungswunden abgedeckt werden können.
Niemand schaut auf Patentrechte
„Das Gerät habe ich abgemessen und aufgezeichnet, die Spinndüse hat es fürs Krankenhaus gebaut“, blickt Horn zurück. Ausprobiert wurde es mit Schweinehaut aus dem Köthener Schlachthof. Auf Patentrechte habe damals niemand geschaut, schmunzelt er.
Ernst Horn, der in wenigen Tagen seinen 92. Geburtstag feiert, kam 1952 aus Kiel, wo er sein Medizinstudium mit einem vorgezogenen Examen gerade beendet hatte, ans Köthener Krankenhaus. „Es gab damals in der BRD eine Ärzteschwemme“, begründet er die räumliche Veränderung. Nach Köthen hatte es auch seine Mutter, die aus dem Sudetenland stammt, nach dem Krieg verschlagen. Das Gehalt eines Pflichtassistenten am Köthener Krankenhaus sei vergleichsweise gut gewesen, erinnert sich der Mediziner.
Die Chirurgie in der Halleschen Straße in Köthen hatte damals 190 Betten. Die Innere Abteilung befand sich im ehemaligen Krankenhaus Süd. Nach dem Krieg hatte der promovierte Mediziner Erich Reinicke die Leitung des Köthener Krankenhauses übernommen.
Ernst Horn bezog zunächst ein Kabuff im Krankenhaus, später bekam er eine Wohnung in der Sebastian-Bach-Straße. Voraussetzung war allerdings, dass der junge Mediziner seine damalige Freundin heiratete, sonst hätte die Wohnung ein anderer bekommen.
Einzugsgebiet bis in den Wörlitzer Winkel
„Zu dieser Zeit gab es im Köthener Krankenhaus keine Orthopäden und auch keine Urologen“, erinnert sich Horn. Also wurden von den Chirurgen auch Nierenoperationen, Prostata-Behandlungen und sogar Brustreduktionen vorgenommen. Der Einzugsbereich des Krankenhauses war größer als heute und reichte bis zum Wörlitzer Winkel. Standen Impftermine an, wurden sie von den Krankenhausärzten mit übernommen.
Anfangs gab es in den Krankenhaus-Zimmern nicht einmal fließendes Wasser. Die Schwestern trugen es in Schüsseln zu den Patienten. „Die Dankbarkeit der Patienten war damals aber größer als heute“, sagt Horn. Heute werde die Tätigkeit von Schwestern und Ärzten oft von vielen Nebensächlichkeiten beherrscht, vergleicht er. Alles müsse durch Unterschriften bis ins Kleinste abgesichert werden, das gehe oft zu Lasten der Zeit für den Patienten. Mehr Personal habe es aber auch zu seiner Zeit im Krankenhaus nicht gegeben, erinnert sich der Chirurg. Anästhesisten gab es zum Beispiel anfangs überhaupt nicht, die Narkosen wurden von den Schwestern gegeben, anfangs noch mit Äther.
Die Ärzte mussten immer auf der Hut sein, wenn der Elektrobohrer zum Einsatz kam. „Da hieß es dann: Äther weg“, schildert Horn. Einen Pressluftbohrer konnte sich das Krankenhaus damals aber trotz größter Winkelzüge nicht beschaffen. „Die Chirurgie in Köthen hatte durch Erich Reinicke, der von der halleschen Uniklinik kam und viele operative Neuerungen durchsetzte, einen guten Ruf erlangt“, erinnert sich Dr. Horn.
Seite 2: Köthener operiert Honecker
Köthener operiert Honecker
Überhaupt seien aus dem Köthener Krankenhaus viele bekannte Ärzte hervorgegangen, die später an der Uniklinik in Halle oder sogar in Berlin praktiziert haben. Als Beispiel nennt Horn den Urologen Prof. Peter Althaus, der an der Charité tätig war und dort 1989 eine Tumoroperation an der Niere bei Ex-DDR-Staatschef Erich Honecker vornahm.
Als Erich Reinicke 1960 das Köthener Krankenhaus in Richtung Westen verließ, stieg Ernst Horn vom Oberarzt zum Leitenden Chefarzt auf und blieb dies bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1987. Trotz des ständigen Mangels, insbesondere bei der Medizintechnik, erinnert sich der Chirurg gern an die 35 Jahre im DDR-Krankenhaus zurück. Die Not machte eben erfinderisch, wie Horn noch an einem anderen Beispiel aus der Zusammenarbeit mit der Gröbziger Spinndüse belegen kann. An der Charité wurde in den 70er Jahren mit einem flexiblen Bohrgerät gearbeitet, mit dem man den Markkanal von Röhrenknochen aufbohren konnte, einem sogenannten Lentodrill.
„Das Gerät konnte man aber nicht nachbauen“, erzählt Horn. Weil die Spinndüse über Devisen verfügte, konnte sie das Importgerät für den „Eigenbedarf“ erwerben. Rein äußerlich passte es ja ins Profil des Spinndüsenherstellers. Über einen Nutzungsvertrag überließ man den Köthener Chirurgen das Gerät für ein Jahr. Danach wurde es Eigentum des Krankenhauses.
Den hohen Grad der Spezialisierung, wie er heute an den Krankenhäusern gefördert wird, sieht der erfahrene Chirurg mit gemischten Gefühlen. Denn medizinische Vielfalt, auch operative, so ist er überzeugt, kann förderlich und für den Patienten sinnvoll sein.
Chirurgen mussten handwerklich begabt sein
Früher musste ein Chirurg handwerklich erheblich mehr leisten, ist er überzeugt - und wenn es die Korrektur von abstehenden Ohren war. Auch Brustimplantate gab es damals schon. Sie wurden in Rostock eingesetzt, das Silicon dafür musste man sich selbst besorgen, schildert der 91-Jährige.
Einen sehr spektakulären Fall hat Dr. Horn noch besonders gut im Gedächtnis. Es muss in den 70er Jahren gewesen sein, da ereignete sich im damaligen Sauerstoffwerk in Osternienburg ein schwerer Unfall, bei dem ein Arbeiter seinen Skalp verlor. Der Mann wurde mit dem Rettungsfahrzeug nach Köthen gebracht.
„Wollen wir das machen oder den Patienten besser in die Uniklinik nach Halle schicken?“, habe ihn ein Kollege damals gefragt, schildert Horn. „Wir hatten so etwas ja noch nie gemacht.“ Kurzerhand entschloss sich Horn, die Operation vorzunehmen. Sie gelang. „Der Köthener Friseur Elze hat damals dafür ein Resttoupet angefertigt“, erinnert er sich.
Kein Kontakt mehr zur Klinik
Heute hat der 91-Jährige keinen Kontakt mehr zum Köthener Krankenhaus. Als er das Haus 1987 verließ, schenkte er dem damals jüngsten Kollegen, dem Chirurg Gerd Meißner, der heute Professor in Querfurt ist, aber auch in Köthen noch privat praktiziert, ein Exemplar der Chronik „Die Mitteldeutschen Krankenhausanstalten“, in der auch das Köthener Krankenhaus beschrieben ist. Mit Meißner steht er noch in engem Kontakt. Ansonsten wohnt der Mediziner zurückgezogen in einem Einfamilienhaus in der Köthener Uhlandstraße, das er seit 1963 bewohnt. Er hat eine Tochter und ein Enkelkind.
Zum Kürzertreten zwingt ihn eine Berufserkrankung, die schon in den Sechzigern mit dem Verlust von zwei Fingern begann. Weil Dr. Horn auch nach der Pensionierung nicht untätig sein wollte, kaufte er sich eine Drechselbank und begann zu malen, um die Finger auch nach dem Ausstieg aus der chirurgischen Praxis weiter in Bewegung zu halten.
Viele ehemalige Patienten erinnern sich noch an den Chirurgen, der sein medizinisches Können und sein handwerkliches Geschick viele Jahrzehnte zu ihrem Wohl eingesetzt hat.

