Der sympathische «Opa-Typ» ein Kinderschänder?
KÖTHEN/MZ. - Kerstin Schmidt* ist mehrfache Mutter und eigentlich mit allen Wassern gewaschen, was Kinderkrankheiten, Trotzphasen und Erziehung angehen - aber dieser Satz hat ihre Welt aus den Fugen gehoben. Damit hätte sie nie gerechnet, nicht in ihrer Stadt, nicht in ihrer Familie. Von so etwas hatte sie bis dahin nur in Zeitungen gelesen und sich Gedanken gemacht, wie es den Kindern und Eltern da eigentlich geht, wie sie wohl reagieren würde, wenn ihr das passieren würde.
Und dabei hatte Kerstin Schmidt* eigentlich nur ihre Tochter und ihren Sohn Andre* fragen wollen, ob ihnen in der Schach AG an der Schule etwas aufgefallen sei. Eine andere Mutter hatte den Verdacht geäußert, ihr Kind sei möglicherweise vom Trainer unsittlich angefasst worden. Während der Sohn schwieg, kullerten bei der Tochter die Tränen und das schreckliche Geheimnis brach förmlich aus ihr heraus, erinnert sich Kerstin Schmidt*.
Sie fragte nicht weiter, sondern ging noch am selben Abend mit dem Vereinspräsidenten zur Polizei. Der Verein erstattete Anzeige gegen den mutmaßlichen Täter - einen 73-jährigen aus der Nachbarstadt. Die Polizei ermittelt umfänglich, bestätigte Sprecherin Doreen Wendland der MZ. Die Staatsanwaltschaft Dessau gibt zu laufenden Verfahren keine Auskunft.
Die Elfjährige und ihr ein Jahr älterer Bruder wurden von einer Kriminalbeamtin behutsam befragt - allein, ohne die Mutter. Das Protokoll durfte die Mutter mit dem Einverständnis der Kinder lesen und ist geschockt, als sie erfährt, dass ihr Sohn wohl noch schlimmer betroffen gewesen sein soll als die Tochter. Sechs Jahre wurde er von dem Schachlehrer betreut, und in dieser Zeit soll dieser sich an dem Jungen vergangen haben. Damit hatte Kerstin Schmidt* absolut nicht gerechnet.
Für die Mutter bricht eine Welt zusammen, wochenlang kann sie nicht mehr schlafen, nicht mehr essen, nimmt in nur zwei Wochen elf Kilo ab. Sie ist schockiert, fragt sich immer wieder, weshalb ihre Kinder, wie konnte das passieren, weshalb hat sie nichts gemerkt?
Der mutmaßliche Täter ging bei der Familie seit Jahren ein und aus, hatte sogar einen Haustürschlüssel und kam mit seiner Familie zu Besuch. Angefangen hat das Ganze 2002. Andre* - damals Abc-Schütze und sehr schüchtern, hat es in der Schule nicht leicht, findet schlecht Anschluss. Eine Lehrerin entdeckt sein Talent für Schach. Andre* geht in die Schach AG - und dort kommt bald der Rentner, der die Kinder im Schach unterrichtet. Auch er bescheinigt Andre* großes Können, so Kerstin Schmidt*, die den Trainer als ruhig und sympathisch, als einen richtigen Opa-Typ beschreibt. "Er hat Andre* als Großmeister gesehen - mit 14 oder 15 Jahren sollte er so weit sein." Und damit der Junge das auch schafft, bekam er mehr Training.
Der Trainer besuchte ihn anfangs wöchentlich zu Hause, dann täglich, um Schach zu spielen. "Später trainierte er auch Saskia* mit, fuhr mit den Kindern zu Turnieren, holte Pokale", so Kerstin Schmidt*, die ihre Kinder des Öfteren begleitete und sich über die Erfolge freute. Unterschwellig gab der 73-Jährige aber immer zu verstehen, so Frau Schmidt* heute, wer der Entdecker der Talente war und wem diese Erfolge zu verdanken seien. Manchmal mischte er sich auch in die Erziehung ein - so, wie es eigentlich nur jemand aus der Familie tun würde.
Gerade Andre* fiel es schwer, beim Guten-Tag-Sagen dem Trainer und auch anderen Menschen ins Gesicht zu schauen. Dafür wurde er des Öfteren vom Trainer ermahnt. Heute weiß die Mutter, weshalb Andre* so verschüchtert wirkte und sich immer mehr zurückgezogen hat.
Seit dem Tag im Mai wird der Name des Schachtrainers bei Schmidts* nicht mehr ausgesprochen. Über das Vorgefallene wird nicht geredet, die Mutter lässt ihre Kinder in Ruhe. Wenn sie darüber sprechen wollen, können sie sich ihr anvertrauen, aber fragen möchte sie nicht. Saskia* und Andre* wirken erleichtert, erlöst von einer Last, sind befreit, sagt ihre Mutter. Der Junge, der kaum jemandem in die Augen schauen konnte, ist jetzt aufgeschlossener, hat eine ganz andere Lebenshaltung angenommen. Das bestätigt auch sein neuer Schachtrainer. Auch er hatte sich immer gewundert, weshalb das Schachtalent so schüchtern und unsicher auftrat. Er hatte es sich damit erklärt, dass Schachspieler manchmal etwas introvertiert sind.
Der Verein hat nach dem Missbrauchsvorwurf reagiert, nicht nur mit der Anzeige gegen den Ex-Schachlehrer - er wurde aus den Listen des Schachverbandes gestrichen - bundesweit. Kontakt hat der Verein nicht mehr zu ihm.
Zum Glück ist den Kindern die Freude am Schachspielen geblieben. Zwei Mal wöchentlich trainieren sie beim Verein, haben weiter Erfolge, entwickeln sich. Das Leben in der Familie geht weiter wie bisher - nur mit weniger Angst für die Kinder. Der Alltag hilft, die schwierige Zeit zu überstehen. Kerstin Schmidt* geht arbeiten, schmeißt den Haushalt, kümmert sich um die Kinder. "Ich hätte nicht zu Hause sitzen können und grübeln, da wäre ich kaputt gegangen."
Sie und die Kinder werden von der Sozialpädagogin Sabine Heutling vom Sozialen Dienst der Justiz Dessau in der Opferberatung betreut. Dabei geht es nicht darum, das Vorgefallene zu bereden - Sabine Heutling hilft den Kindern, sich selbst besser kennen zu lernen. Die Kinder sollen ihre Gefühle besser wahrnehmen können. Was empfinde ich, wie reagiere ich, wenn sich etwas komisch anfühlt? Für Sabine Heutling ist es völlig normal, dass über das Geschehene nicht geredet wird - sondern der Alltag gelebt wird. Das gibt Sicherheit, beruhigt, nimmt von den Kindern die Spannung.
Der Fall, wie ihn die Schmidts* geschildert haben, ist für die Sozialpädagogin nicht ungewöhnlich "Wenn es um Kindesmissbrauch geht, stammen die meisten Täter aus der Familie, dem Bekanntenkreis oder dem Umfeld von Wohnung und Schule", so Heutling. Dabei gehen diese Täter auch sehr systematisch vor, investieren in die Beziehung und setzen die Kinder dann auch unter Druck. Bei den Kindern der Schmidts* betonte der mutmaßliche Täter sehr oft, dass sie den Schacherfolg nur ihm zu verdanken hätten. "Bei so viel Nähe zwischen den Betroffenen fällt es den Kindern schwer, sich jemandem anzuvertrauen", so die Sozialpädagogin. "Kinder merken sehr wohl, dass etwas nicht stimmt, aber sie wollen den Eltern auf keinen Fall wehtun, keine Tränen bei der Mama sehen."
Und genau das ist meist das Druckmittel der Täter - sie drohen damit, dass die Mama dann sehr traurig sein wird, falls sie etwas erführe. So soll es auch bei den Kindern der Schmidts* gewesen sein. Ob noch mehr Kinder vom mutmaßlichen Täter sexuell missbraucht wurden, konnte von den Behörden nicht bestätigt werden, dazu laufen noch die Ermittlungen. Vermutet wird es aber von vielen. Deshalb gab es für die Eltern der Schachkinder einen Elternabend. Familie Schmidt* hatte den Mut, ein Tabuthema anzusprechen. Sie will helfen, den Fall umfassend aufzuklären und Leute, die Kindern Böses antun, Schach matt zu setzen - und das nicht nur auf dem Holzbrett.
(* - Namen geändert).