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Aktion Ossawakim Aktion Ossawakim: Die Deutschen im Holzhaus

Von Katrin Noack 11.02.2014, 22:12
Friedrich Thiele am Zeichentisch im Konstruktionsbüro. Er arbeitete bei den Junkerswerken Dessau. Er wurde 1946 nach Russland verschleppt.
Friedrich Thiele am Zeichentisch im Konstruktionsbüro. Er arbeitete bei den Junkerswerken Dessau. Er wurde 1946 nach Russland verschleppt.  Repros: Rebsch/Schramme Lizenz

Köthen/MZ - Das Foto einer Holzhauses in seinem Hausflur hat für Michel Schramme besondere Bedeutung. „Für mich war es als Kind der einzige Hinweis auf die Russlandzeit meiner Großeltern“, sagt der Köthener. Es steht für ein Stück Familiengeschichte und ein Kapitel der Nachkriegszeit in Deutschland, über das jahrzehntelang nicht gesprochen wurde: die Aktion Ossawakim. Im Auftrag des Innenministeriums der damaligen Sowjetunion wurden im Oktober 1946 mehr als 2 000 Wissenschaftler, Ingenieure und Techniker aus der sowjetischen Besatzungszone zur Arbeit in Russland verpflichtet. Schrammes Großvater Friedrich Thiele war einer davon, wie der Köthener kürzlich in einem Vortrag des Vereins für Anhaltische Landeskunde im Hotel Stadt Köthen berichtete.

Thiele (1903 - 1989) arbeitete ab 1937 in der Abteilung Fertigungsprüfung als Prüfingenieur bei den Junkers Flugzeug- und Motorenwerken in Dessau. Das machte ihn für die Sowjetunion später zum begehrten Spezialisten.

Betriebe ziehen um

Der Ministerrat der Sowjetunion wollte Wissen und Technik der Betriebe des zerschlagenen Dritten Reiches nutzen. „Man hat Wissenschaftler in das Gebiet geschickt und sich Betriebe der Flugzeugindustrie angeschaut“, berichtet Michael Schramme über die Vorbereitungen zur Aktion Ossawakim. „Im April 1946 kam dann der Beschluss: Sämtliche deutsche Spezialisten sind auszulagern in die Sowjetunion“. Ganze Betriebe wurden nach Osten transportiert, von Junkers die Experimentaltechnik. Maschinen wie die EF 126/127 oder die die Ju 247 (V1).

„Schreibtische und Werkbänke wurden versiegelt, verladen und mit dem Zug transportiert“, schildert Schramme. Aus diesen Flugzeugen entwickelte man in der Sowjetunion später zum Beispiel die Baade 152, das erste deutsche Passagierflugzeug oder die MIG 15 und 19.

Im Oktober 1946 kamen die Spezialisten der Betriebe dran. Bei Familie Thiele in der Köthener Leopoldstraße standen am 21. Oktober um 5 Uhr Soldaten mit Kalaschnikows vor der Tür. „Sie sagten zu meinem Großvater: ’Herr Thiele’ machen Sie sich fertig’“. Nur ein Köfferchen konnte der Ingenieur packen, dann ging es los.

In 170 Briefen schilderte Thiele der Familie von seiner Zeit in Russland. Michael Schramme hat sie alle gelesen. Etwa jene, in denen der Großvater von der mehrtägigen Reise nach Kuibyschew (heute Samara) und der ersten Zeit dort berichtet. Darin lobt er die gute Versorgung mit Lebensmitteln verglichen mit der Lage in der Heimat. Er schildert das Wiedersehen mit einem Mitstudenten aus Köthen und abenteuerliche Friseur- und Arztbesuche.

"Die Frau gehört zum Mann"

Ende 1946 folgt Rosemarie Thiele ihrem Mann mit den beiden Töchtern. „Die Frau gehört zum Mann, fand sie“, erklärt der Enkel. Sie machte sich auf eigene Faust auf den Weg, bekam von der russischen Verwaltung die Erlaubnis für die Reise und erreichte bald Podberesje an der Wolga, etwa 120 Kilometer nördlich von Moskau.

Als Friedrich Thiele dort im Mai 1947 ankam, hatte sich die Familie in jenem Holzhaus vom Foto eingerichtet. Zu viert wohnten sie auf 48 Quadratmetern. Rosemarie Thiele arrangierte die Wohnung nach eigenen Plänen, ihr Mann konstruierte einen Herd und eine Speisekammer. Er arbeitete im nahen Werk an Weiterentwicklungen der junkerschen Flugzeugtechnik und lernte russische Spezialisten an.

Der Familie, betont Schramme, ging es gut in Podberesje. Die Kindern gingen ab 1948 in die örtliche Schule, die Mutter engagierte sich in der deutschen Siedlung in mehreren Vereinen. „Es gab ein opulent gestaltetes Karnevalsfest, Kinderfeste und Umzüge“, schildert Schramme. Sogar Pakete mit Lebensmitteln schickte die Familie nach Köthen, mit weißen Bohnen, Kaffee, eingeweckten Pfirsichen.

Im Oktober 1950 kehrten Thieles nach Köthen zurück. Die russischen Spezialisten waren eingearbeitet. Die Deutschen brauchte man nicht mehr. Im Haus in der Leopoldstraße lebten nun Flüchtlinge aus dem Osten, die Familie musste zunächst eine Übergangswohnung beziehen. Als Erinnerung an die russische Zeit hängte Friedrich Thiele später das selbst gemachte Foto des Holzhauses im Haus auf.

Friedrich Thieles Familie folgte ihm. Sie lebten dort in diesem kleinen Holzhaus (kleines Foto) mit einer weiteren Familie.
Friedrich Thieles Familie folgte ihm. Sie lebten dort in diesem kleinen Holzhaus (kleines Foto) mit einer weiteren Familie.
 Repros: Rebsch/Schramme Lizenz