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Überlebende durften nichts sagen

Von H.-Dieter Kunze 17.11.2006, 19:17

Hohndorf/MZ. - Herbert Heinrich, 1937 im Prettiner Ortsteil Hohndorf geboren und seit vielen Jahren in Hannover lebend, erinnert sich an ein schlimmes Kapitel der Familiengeschichte, das er und seine Angehörigen bis heute nicht wirklich verkraftet haben. Es war der 4. Mai 1945. Mutter und Vater arbeiteten auf den Feldern des 75 Hektar großen bäuerlichen Familienbetriebes. Herbert und sein jüngerer Bruder Horst spielten auf einer Koppel, als plötzlich ein Panjewagen hielt, gelenkt von Rotarmisten. "Mitkommen zur Kommandantur nach Axien", hieß es kurz und barsch. "Warum denn", fragte der Vater, der ebenfalls Herbert hieß. Begründung: In Hohndorf wurde eingebrochen, er sei ein Verdächtiger, der Fall müsse aufgeklärt werden. Die Familie sah den Vater nie wieder.

Herbert Heinrich jun. und seinen Angehörigen wurde alsbald klar, dass die Verhaftung vom Feld weg nur ein Vorwand war. Denn das eigentliche "Vergehen" von Herbert Heinrich sen. bestand einfach nur darin, dass er stellvertretender Ortsbauernführer in Hohndorf war. So wie ihm erging es in diesen schlimmen Tagen vielen Menschen aus der Elbe-Elster- und anderen Region in der damaligen sowjetischen Besatzungszone. Jahrelang hörten die Heinrichs absolut nichts von Vater Herbert. Ende 1945 kehrten nur wenige ausgemergelte und seelisch gebrochene Menschen aus sowjetischer Gefangenschaft in ihre Heimat an Elbe und Schwarzer Elster zurück. Sie verhielten sich äußerst wortkarg, denn ihnen war bei Strafe verboten, über ihre Internierung in Lagern des damaligen sowjetischen Geheimdienstes NKWD auch nur ein Sterbenswörtchen - im wahrsten Sinne des Wortes - zu verlieren.

Familie Heinrich aus Hohndorf aber ließ nicht locker. Wo war der Vater abgeblieben, lebt er noch oder ist der schlimmste Fall eingetreten? Nachforschungen über den Suchdienst vom Deutschen Roten Kreuz brachten 1953 schließlich die bittere Wahrheit ans Tageslicht: Herbert Heinrich ist im NKWD-Internierungslager Tost (heute Toszek) in Oberschlesien am 12. Oktober 1945 umgekommen. Die Heinrichs hielten es nicht länger in der DDR aus und flüchteten nach der Enteignung ihres Anwesens 1953 in den von den westlichen Alliierten besetzten Teil Deutschlands. Nach einer Odyssee über Aufnahmelager und verschiedene Wohnorte wurde Hannover ihre neue Heimat. Das Schicksal seines Vaters ließ Herbert Heinrich jun. nie ganz los. So brach er im August dieses Jahres mit Erhard Reichel aus Axien und Volker Kummer aus Hohndorf nach Tost in Oberschlesien auf, um den Ort des einstigen Grauens, wo sein Vater umgekommen war, zu besuchen.

Tost war für die Gefangenen die Hölle. Die, die den tagelangen Transport in Viehwaggons der Deutschen Reichsbahn überlebt hatten, erwartete in Tost das blanke Grauen. Viele starben vor Erschöpfung noch auf dem 18 Kilometer langen Fußmarsch von der Eisenbahnstation Großstrelitz ins Lager. Der Klinkerbau wurde landläufig "Irrenanstalt" genannt. Etwa 5 000 Internierte aus Deutschland wurden hier auf engstem Raum zusammengepfercht. Nicht mal ein Quadratmeter stand jedem Häftling zur Verfügung. Hunger, Seuchen und Misshandlungen rafften von Mai bis November 1945, der Auflösung des Lagers, rund 3 500 Menschen dahin, darunter auch Frauen und Jugendliche. Sie wurden in Massengräbern am Rande der Stadt oder teilweise auf einem katholischen oder jüdischen Friedhof verscharrt.

Das ganze Ausmaß des Grauens wurde erst nach teilweiser Freigabe der Archive in Russland Anfang der 90-er Jahre durch Nachforschungen von Historikern bekannt. Einer davon ist Johannes Schostok. Der Deutsche lebt noch heute in Toszek und ist Mitglied des Deutschen Freundschaftskreises Tost. 1945 war er 16 Jahre alt. Die Bilder von damals lassen ihn bis heute nicht los. "Jeden Tag, außer Sonntag, rollte ein Leiterwagen durch Tost zur Kiesgrube, vollgepackt mit Toten. Dicht an dicht und so makaber es klingt, wie Heringe in einer Dose, wurden sie in die Grube geschichtet", erinnert er sich. Der Leiterwagen mit den Toten wurde von zwei stämmigen Kaltblütern vom Lager bis ins Massengrab gezogen. "Sogar die Pferde ließen die Köpfe hängen. Die Tiere spürten sicher instinktiv, welch schreckliche Fracht sie beförderten", erinnert sich Johannes Schostok.

Er war einer der Initiatoren, die sich nach der Wende für eine Gedenkstätte an den Massengräbern auf dem Gelände der ehemaligen Kiesgrube stark machten. Heute betreut und pflegt er das eingezäunte Areal mit Gedenktafeln in deutscher und polnischer Schrift. Auch Herbert Heinrich verweilte dort in stillem Gedenken an seinen Vater und legte Blumen nieder.