Sudetendeutsche in Jessen Sudetendeutsche in Jessen: Gruppe löst sich auf

Jessen - Vor 25. Jahren, am 26. Mai 1991, gründete sich im „Eiscafé Schmidt“ die Gebietsgruppe Jessen der Sudetendeutschen Landsmannschaft zunächst als eingetragener Verein. Nach dessen Auflösung traf man sich in loser Runde, zunächst in Jessens „Bergschlösschen“, dann in der „Gaststätte Nord“. Doch auch der losen Gruppe steht das Ende bevor. Aber am 6. Dezember gibt es noch die traditionelle Weihnachtsfeier.
„Wir gehen auf keinen Fall im Zorn auseinander. Todesfälle und krankheitsbedingte Umstände zwingen uns leider zu diesem nicht leichten Schritt“, bedauert Franz Schöbel, geboren im Riesengebirge. Er gehörte zu den Gründungsmitgliedern und war jahrelang Vorsitzender des Jessener Landsmannschaftsvereins. Danach organisierte er in jedem Jahr bis zu fünf Zusammenkünfte, die von den Sudetendeutschen dankbar angenommen wurden. 35 Mitglieder zählte anfangs der Verein. Heute sind es noch bis zu 19, die regelmäßig kommen.
In den Jahren 1945/46 wurden annähernd drei Millionen Deutsche unter Androhung und Anwendung von Gewalt aus ihrer Heimat in der Tschechoslowakei vertrieben. Grundlage dafür war das Dekret 108 vom 25. Oktober 1945 des damaligen tschechoslowakischen Staatsführers Edvard Benes. Das gesamte Vermögen der Sudetendeutschen wurde konfisziert und unter staatliche Verwaltung gestellt. 1945 gab es die so genannten wilden Vertreibungen, ab Januar 1946 hieß es „Abschiebung“, größtenteils in die Sowjetische Besatzungszone, wenige nach Österreich.
Es gab während der Vertreibungen schlimme Exzesse. So wurden in Usti nad Labem (ehemals Aussig an der Elbe) deutsche Flüchtlinge von einem aufgebrachten Mob von einer Brücke in die Elbe gestoßen. Bis zu 100 Tote soll es dabei gegeben haben. Erst seit wenigen Jahren erinnert eine Gedenktafel daran.
Die Gründung der Sudetendeutschen Landsmannschaften im Osten Deutschlands erfolgte in allen Bundesländern diesseits der Grenze durch Anregung des Bundesvorstandes in Nürnberg. „Wir wurden dazu nicht gezwungen, fanden es aber als Heimatvertriebene interessant, uns endlich präsentieren zu dürfen“, sagt Franz Schöbel. In Zeiten der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) war das ein Tabuthema. „Besser war es, sich dazu nicht öffentlich zu äußern. Sonst hätten unweigerlich Repressalien gedroht“, erinnert sich Susanne Hinze aus Gorsdorf-Hemsendorf, ebenfalls ein Gründungs- und Vorstandsmitglied. Bei der Gründungsversammlung staunten sie und andere nicht schlecht, wer sich auf einmal als Heimatvertriebener outete. Jetzt durfte man endlich offen und frei sprechen – über die geliebte alte Heimat, die mehr oder weniger brutale Vertreibung und Demütigungen, die Strapazen auf der Flucht und das schier unlösbare Problem, eine „Ersatzheimat“ im Osten Deutschlands zu finden. „Sieben Wochen und länger irrten wir umher, keiner wollte uns haben; von öffentlichen Quartieren ganz zu schweigen“, denkt Helma Kitzhofer aus Tetschen-Bodenbach, heute Decin, zurück.
Ein noch größeres Problem war der ständige Hunger. „Das interessierte niemanden, Rationen gab es in der sowjetischen Besatzungszone nicht. Was blieb mir weiter übrig, als auf fremden Äckern Kartoffeln auszuhacken, damit wenigstens die Kinder etwas im Magen hatten“, so Susanne Hinze. In die Schule gingen die Kinder mit knurrenden Mägen ohne Frühstück. Wenn überhaupt, war eine Scheibe trockenes Brot dabei. „Eine Episode hat sich bei mir eingebrannt. Meine Tochter traf in der Klasse ein Schulmädchen. Sie packte ihr Frühstück aus, zog ein Gesicht und mäkelte ’Iiiih, schon wieder Bratwurst‘. Meine Tochter reagierte prompt: ,Komm wir tauschen. Du kriegst meine Scheibe Brot und ich die Wurstschnitte‘.“ So genoss Frau Hinzes Tochter seit Monaten endlich wieder einmal etwas Kräftiges.
Mühsam und entbehrungsreich bauten sich die Flüchtlinge in den unterschiedlichsten Orten neue Existenzen auf. Aber sie ließen sich niemals unterkriegen. Schon zu DDR-Zeiten fuhren sie ab und an in ihre Heimatorte in der Tschechoslowakischen Sozialistischen Republik (CSSR). Nach der Wende „entflochten“ sich die Landesteile, die Tschechische und die Slowakische Republik entstanden als eigenständige Staaten. Was den sudetendeutschen Vertriebenen geblieben ist, sind das Heimatgefühl sowie die Brauchtums- und Traditionspflege. „Heimat ist da, wo man geboren ist, man vergisst sie niemals“, formuliert Marianne Lang aus dem Altvatergebirge. Alle stimmen ihr zu. Und sie betonen auch unisono: „Wir sind alle keine Jessener, sondern Sudetendeutsche.“ (mz)