Interessengemeinschaft Todesmärsche Interessengemeinschaft Todesmärsche: Erschossen und verscharrt

Jessen - „Allein zwischen Rehain und Gentha sollen 38 Häftlinge ums Leben gekommen sein. Wo sind sie bestattet? Wo befinden sich ihre Gräber?“ Mehrfach fragt Dietmar Steinecker dies in die Runde von elf Teilnehmern der jüngsten Exkursion der Interessengemeinschaft Todesmärsche aus dem Harz.
Der Genthaer Hobby-Historiker und Chronist führt die Truppe um Ellen Fauser aus Halberstadt, Vorsitzende der IG, die sich vor allem der Aufarbeitung des Todesmarsches aus Langenstein-Zwieberge, Außenlager vom KZ Buchenwald, im April 1945 widmet.
Beim verbliebenen Rest der noch lebenden Todesmärschler, die um den 20. April 1945 von der Wachmannschaft aus Gentha kommend in Richtung Meltendorf getrieben wurden, befand sich auch Dr. Joachim Weidauer. In Dresden geboren, hatte er in den 1930er Jahren in Wien Medizin studiert. Zum Verhängnis wurde ihm, dass er Halbjude war. Von einem Nazi deshalb beschimpft, schlug Weidauer diesen zusammen. Wofür er ins KZ kam (1940 bis 1945), nach Sachsenhausen bei Oranienburg, nach Buchenwald und Langenstein-Zwieberge.
An der Fließ-Brücke zwischen Lüttchenseyda und Meltendorf ließ sich Weidauer in Absprache mit einem Wachmann in den Straßengraben fallen. Der schoss zweimal über ihn hinweg und der Tross zog weiter. Weidauer schleppte sich zu einem Wäldchen zwischen Zemnick und Schadewalde. Dort fanden ihn die Kinder (Siegfried und Günther) von Meta Dümichen aus Schadewalde. In der Nacht wurde der völlig entkräftete Mann mit einem Handwagen geholt, zuerst in die nahe Mühle von Schinkels, dann zu Meta Dümichen. Sie versteckte ihn mehrere Wochen im Backbund-Schuppen. Weidauer wog da nur noch 36 Kilo. Nach Kriegsende meldete er sich beim Seydaer Bürgermeister, der später sein Schwiegervater wurde. Er ehelichte Ursula Kaatz, das Paar bekam zwei Kinder. Weidauer wurde Landarzt in Seyda.
Als die Zwangskollektivierung in der DDR-Landwirtschaft griff, baten Bauern den Arzt, auf einer ihrer Versammlungen zu sprechen. Weidauer prangerte den SED-Staat und das Eingesperrtsein in der DDR an. Was ihn in den Fokus der Staatssicherheit rückte. Am 5. Oktober 1960 wurden er und seine Frau Ursula, auf dem Weg nach Berlin, unweit von Mellnitz verhaftet. Gut sechs Jahre (1960 bis 1967) saß der Arzt im berüchtigten Bautzener Knast ein. Seine Frau kam als „Mitwisserin“ für zwei Jahre ins Gefängnis. Sie kehrte 1966 als körperliches Wrack im Rollstuhl zurück und starb kurz darauf. Weidauer, Mitte 1967 entlassen, ging nach Rheinsberg (zwischen drei Orten ließ man ihn wählen), wo er noch 25 Jahre als praktizierender Arzt tätig war. Er starb am 13. Dezember 1991 im Alter von 79 Jahren.
Das Ziel sind Stellen entlang der Straßen zwischen Jessen und Schadewalde, von denen Steinecker aufgrund seiner Recherchen weiß, dass dort KZ-Häftlinge erschossen wurden und mitunter - zumindest zeitweise - Grabstellen existierten.
Nachtlager in der Kirche
Die Exkursion startet auf dem Jessener Markt mit dem Blick zur Stadtkirche St. Nikolai. Wahrscheinlich am 18. oder 19. April wurden die Reste einer Todesmarsch-Kolonne von ihren SS-Bewachern zum Übernachten in das Gotteshaus getrieben (die MZ berichtete bereits). Der Jessener Zeitzeuge Hans Kampfhenkel erzählt den Exkursionsteilnehmern von vielleicht 200 erbärmlichen Kreaturen.
Laut Ellen Fauser sind am 9. April 1945 in Langenstein-Zwieberge etwa 3 000 KZ-Häftlinge in sechs Marschkolonnen auf verschiedenen Wegen in Richtung Osten aufgebrochen. Einer dieser Züge nahm in der hiesigen Region den Weg über Dommitzsch, via Pontonbrücke nach Prettin (da waren es noch um die 300 Häftlinge aus mehreren vereinigten Kolonnen), weiter durch Lebien (19 Erschossene allein in dieser Gegend) und Gerbisbach (13 Tote gefunden) nach Jessen (um die 30 Tote).
Die Route führte dann wohl über Arnsdorf/ Arnsdorfer Berge, Rehain, Ruhlsdorf, Gentha, Lüttchenseyda, Meltendorf, Zemnick, Leetza, Zahna, Labetz (Denkmal für elf ermordete Häftlinge) und durch Wittenberg bis nach Apollensdorf beziehungsweise Buro (Auflösung wahrscheinlich am 21./22. April 1945). Insgesamt überlebten nur knapp 100 Häftlinge die höllische Tortour.
Tote auf den Bergen
Zu der Übernachtung in Jessens Gotteshaus merkt Steinecker an: „Es war sehr kalt in der Kirche. Die Wachmannschaft zog sich in die beheizte Kantorei zurück. Viele Häftlinge hatten Durchfall und beschmutzten die Kirche. Am nächsten Tag wurden Jessener zum Saubermachen verpflichtet.“
Erhard Fritzsche, Chef vom Heimatverein Glücksburger Heide, hat erfahren, dass es beim Lagern der Marscheinheit in den Arnsdorfer Bergen etliche Tote gab. „Sie wurden von der SS oder Volkssturm-Leuten zusammengetragen und ein einheimischer Bauer musste die Leichen später abtransportieren.“
Die Exkursionsgruppe der IG begibt sich von Jessens Markt nach Rehain, an die einstige Kieskeite Richtung Ruhlsdorf. „Hier hat mal ein Grabstein gestanden“, sagt Steinecker. Er und Ellen Fauser legen Blumen nieder. An den folgenden Stationen übernehmen das andere Teilnehmer, so am Rand des Ruhlsdorfer Gutsparks. „Hier hatte man damals eine Panzersperre errichtet, an der einige Häftlinge erschossen wurden“, erläutert der Genthaer Chronist.
Auch am Ruhlsdorfer Berg in Richtung Gentha machen die Spurensucher Halt. Der Grabstein, der hier früher existierte, ist verschwunden. An Baders Fichten unweit von Gentha erinnert ebenfalls nichts daran, dass im April 1945 sechs Häftlingsleichen in einer Kiesgrube verscharrt wurden.
Dasselbe trifft auf die drei Männer zu, die in Gentha selbst erschossen wurden, der dritte an der Morgengrabenbrücke am Ortsausgang nach Lüttchenseyda. Die in Lüttchenseyda Umgekommenen hat man in einem Garten bestattet.
Der nächste Stopp gilt der Fließ-Brücke zwischen Lüttchenseyda und Meltendorf, an der Joachim Weidauer dem Todesmarsch entkam. Über Zemnick (am dortigen Panzerweg sollen zwei Häftlinge erschossen worden sein) und Schadewalde geht es zurück nach Gentha, wo im Gutshaus die gemeinsame Auswertung des Tages erfolgt. (mz)


