1. MZ.de
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Jessen
  6. >
  7. Bäckerei in Jessen: Bäckerei in Jessen: Die letzten Brötchen

Bäckerei in Jessen Bäckerei in Jessen: Die letzten Brötchen

Von Gabi Zahn 28.03.2014, 21:40
Das waren die ersten Brote, die der junge Bäckermeister Hans-Jürgen Bour 1980 in seiner Backstube aus dem Ofen gezogen hat.
Das waren die ersten Brote, die der junge Bäckermeister Hans-Jürgen Bour 1980 in seiner Backstube aus dem Ofen gezogen hat. Gabi Zahn Lizenz

Jessen/MZ - An diesem Samstag öffnet die Bäckerei Bour in Jessens Lindenstraße zum letzten Mal. In der Nacht hat Bäckermeister Hans-Jürgen Bour noch mal viele Teige hergestellt für Brote, Brötchen und Kuchen. „Wir bieten unseren Kunden noch mal das volle Sortiment an“, sagt er. Gegen Mittag, wenn alles verkauft ist, werden er und seine Ehefrau Hannelore nach fast 34 Jahren die Ladentür für immer schließen und in Rente gehen. Nachfolger gibt es nicht. Damit verliert die Kernstadt Jessen den letzten produzierenden Bäcker.

„Wir hatten den Termin 29. März 2014 seit langem geplant und nicht wirklich ein Geheimnis daraus gemacht. Dennoch reagierten Kunden nach der Ankündigung sehr überrascht, manche sogar erschrocken“, berichtet Hannelore Bour. Am häufigsten hörte das Ehepaar jedoch folgenden Satz: „Es ist schade für uns, dass ihr aufhört, doch ihr habt euch eine ruhigere Zeit wahrlich verdient.“

Ein Rückblick: Bei Bäckermeister Otto Jöricke hat Hans-Jürgen Bour sein Handwerk von 1966 bis 1969 gelernt – in jener Bäckerei in der Lindenstraße. Zunächst jedoch wird der junge Bour Soldat, arbeitet danach vier Jahre im Harz, heiratet 1976 seine Hannelore und ist von da an bis 1980 in der Bäckerei Käpernick Annaburg angestellt. Als sein einstiger Lehrmeister 1980 in Rente geht, übernimmt Hans-Jürgen Bour am 12. August das Geschäft. Stolz hängt seine Frau die Meisterurkunde im Laden auf. Den Abschluss hatte er 1978 erreicht.

Andrang am ersten Tag

„Am Eröffnungstag war wunderschönes Wetter. Neben dem damaligen Bürgermeister Werner Knochmuß kam Dorothea Lausch als erste Gratulantin zu uns, die im Auftrag der Apotheke von Henriette Hein gute Wünsche überbrachte“, erinnert sie sich. Und auch daran: „Wir hatten Tausende Brötchen gebacken, und schon nach einer halben Stunde waren alle weg.“

Alle zwei bis drei Tage hielt fortan der Mehltanker aus Niedergörsdorf vor dem Geschäft und lieferte jeweils sechs Tonnen an – je zur Hälfte Roggen- und Weizenmehl. „Wir waren in der Gegend einer der ersten Betriebe, der ein Silo besaß. Schmied Werner Richter hatte beim Bau geholfen. Die Säcke wurden von Sattlermeister Jim Träger genäht“, berichtet Bour. Als ersten Gesellen hatte er Giesbert Krebs an seiner Seite, ihm folgte später Gerald Görz. Im Laufe der Jahre bildete Bour fünf Lehrlinge aus: Bernd Fischer, Heidi Görz (jetzt Graebitz), Jörg Vossen, Matthias Kainz, Maik Dreißig und Sohn Michael.

Eine der ersten Rechenaufgaben, die ein angehender Bäcker beherrschen muss, lautet so: Brot und Brötchen müssen um 6.30 Uhr fertig sein. Wann also ist Arbeitsbeginn? Hans-Jürgen Bour hat es 34 Jahre lang vorgemacht und montags bis samstags gegen 1.30 Uhr das Licht in der Backstube angeknipst. „Bis auf das Kneten des Teiges war alles echte Handarbeit. Für das Brot habe ich ausschließlich Natursauerteig verwendet. Das wissen die Kunden bis zum heutigen Tag zu schätzen“, bekundet Bour, der zu DDR-Zeiten sogar Obermeister im Kreisgebiet war.

Immer gegen 6.30 Uhr wurden die frisch gebackenen Waren in den Laden geräumt. Das blieb im Wesentlichen auch nach dem Mauerfall so. An eine ganz andere Folge der politischen Wende erinnert sich Hannelore Bour mit Schmunzeln: „Ananas-Torten zu bestellen war jetzt jederzeit möglich. Die Kunden mussten die Früchte nun nicht mehr selbst besorgen.“ In der Backstube wurde nach 1990 in neue Maschinen und zweimal auch in neue Öfen investiert. So konnte die Produktpalette erweitert werden. Äußerst negativ schlugen jedoch die enormen Preissteigerungen für Energie und Heizöl zu Buche. Hinzu kam, dass in den Supermärkten immer mehr „Industriebrötchen“ angeboten wurden. „Trotzdem konnten wir uns immer auf unsere Stammkunden in der Stadt und auf den Dörfern verlassen“, freut sich Hannelore Bour. Über drei Jahrzehnte hinweg hat die rührige Bäckersfrau an der Seite ihres Mannes gestanden, sowohl hauptsächlich den Laden als auch die Familie gemanagt. Zu Zeiten, als die Kinder noch klein waren, hatte Hannelore, wenn sie frühmorgens zwischen 6 und 7 Uhr ins Geschäft kam, schon eine „Schicht“ hinter sich. Denn Meike, Michael und Katharina wollten ebenfalls versorgt sein und zur Krippe, Kindergarten oder Schule gebracht werden. Zurückblickend sagt sie: „Ich weiß nicht mehr, wie wir das geschafft haben. Es hat geklappt, wohl auch deshalb, weil unsere Kinder pflegeleicht und selten krank waren. Dafür sind wir dem Schicksal sehr dankbar.“ Dass es aus der Familie keine Nachfolge für den Betrieb gibt, können die Eltern gut verstehen: „Die Zeiten werden nicht einfacher für kleine Handwerksbäcker“, so der Vater.

Alljährlich am zweiten Wochenende im August legte Hans-Jürgen Bour zum Schul- und Heimatfest Sonderschichten ein. Nicht nur als leidenschaftlicher Bäcker, sondern auch als engagiertes Mitglied des Jessener Spielmannszugs, der seit 30 Jahren besteht. Bour gehörte 1984 zu denjenigen, die den Spielmannszug neu aufbauten.

Dank an Fleißige Helfer

Auch wenn sich das Bäcker-Ehepaar auf den Ruhestand freut: An Wehmut wird es nicht fehlen, wenn die letzten Kuchen und Torten aufgeschnitten werden. Die letzte „Seezunge“ lässt sich vermutlich Hans-Jürgens Bruder Wolfgang reservieren. Die letzten Brote und Brötchen gehen über die Ladentheke. Dann ist Schluss. Mit lieben Worten zählt die Bäckersfrau jene Menschen auf, die gern zur Stelle waren, wenn sie als fleißige Helfer gebraucht wurden: unter anderem sind das Christel und Juliana Püchner, Mia Pannier, Hans Vollmer und Gertrud Kratschke: „Wir danken ihnen und allen Kunden, die uns über so viele Jahre hinweg treu geblieben sind.“

Im 38. Ehejahr freuen sich beide auf viele freie Tage – und auf ungestörte Nachtruhe. Der kleine Bungalow in Prettin wird sicher ausgiebiger genutzt werden als nur von Samstagmittag bis Sonntag. Urlaub hatte es 1995 zum letzten Mal gegeben. Hannelore Bour verrät, wohin die erste Reise geht: „Nach Dresden, wo unsere Tochter Katharina wohnt. Sie bekommt ihr erstes Kind. Der Reigen unserer Enkel wächst, und wir können sie endlich etwas öfter sehen.“