Afghanistan Afghanistan: Sehnsucht nach der Fremde

Holzdorf/Kabul/MZ - Sohrab in der afghanischen Hauptstadt Kabul hört gern Geschichten, die sein Großvater Amiri ihm vorliest. Mitunter kommt es vor, dass der Fünfjährige ihm dafür ein deutsches Grundschulbuch aus seinem Zimmer holt. Gebannt schaut Sohrab dem älteren Herrn dann beim Lesen auf die Lippen und versucht, die soeben gehörten Wörter nachzusprechen. Deutsch ist für Amiri Bahawoddin zur zweiten Muttersprache geworden, seit er ab 1985 für drei Jahre an der DHfK Leipzig Sport studierte. „Eine schöne Zeit“, blickt der 55-Jährige schwärmerisch zurück. Die bis dato für ihn fremde Kultur, ein anderes Klima, vor allem aber die Menschen um ihn herum sind Amiri in guter Erinnerung geblieben. Seine Diplomarbeit verfasste er zum Thema „Jahresplanung für eine Fußballmannschaft unter afghanischen Bedingungen“. Die Machbarkeit seiner Gedanken konnte er später selbst überprüfen. Vor dem Einzug der Taliban 1994 trainierte er ein Jahr lang die Fußballnationalmannschaft Afghanistans.
Sportlich ist Amiri bis heute. Die schlanke Figur und schnelle Bewegungen sprechen dafür. Zudem gibt er sein Wissen kostenfrei im Sportunterricht an einer nah seinem Haus gelegenen Mädchenschule weiter. Doch auch bei den Profis ist er noch immer gefragt. Das Frauenfußballteam des Landes hat mehrfach die Bitte geäußert, er möge es trainieren. Dafür fehle ihm aber die Zeit, sagt er. Über die verfügen vor allem Soldaten der Bundeswehr. Dank seiner profunden Sprachkenntnisse arbeitet er seit mehreren Jahren als Dolmetscher für das deutsche Kontingent in Kabul. Hunderte von ihnen beschäftigt die deutsche Armee seit ihrem Einzug am Hindukusch. Sie helfen, sprachliche Barrieren zu überbrücken, sind das Bindeglied der ausländischen Soldaten zu dem ihnen oftmals fremden Volk.
"Nach dem Abzug der Truppen ist in diesem Land kein Platz mehr für mich"
Die Festigung der Fremdsprache, aber auch ein guter Verdienst gaben Amiri Hoffnung auf eine gute Zukunft. Doch wie für die meisten Einheimischen, die den Deutschen ihre Dienste anboten, sind auch für den sechsfachen Familienvater die goldenen Zeiten bald vorbei. „Nach dem Abzug der Truppen ist in diesem Land kein Platz mehr für mich“, sagt er resigniert. Ab 2015, davon ist er überzeugt, leben er und die Seinen gefährlich. Wer mit den ISAF-Truppen zusammengearbeitet hat, muss die Rache alter Kräfte fürchten. Und genau die, so Amiri, werden früher oder später das Ruder wieder an sich reißen. Als einzigen Ausweg für sich sieht er die Ausreise nach Deutschland. Einen entsprechenden Antrag hat er bereits formuliert und abgeschickt. Ob dieser positiv beschieden wird, ist allerdings fraglich. Im Gegensatz zu anderen an der ISAF-Mission beteiligten Staaten tut Deutschland sich noch immer schwer, die 1 260 für sie tätigen afghanischen Helfer und deren Familien nach Europa zu holen.
Eine Jobbörse der Entwicklungsorganisation GIZ soll unter anderem helfen, die Betreffenden an zivile Partner zu vermitteln. Auch die afghanische Regierung sieht eine eventuelle Ausreise der Sprachmittler skeptisch, will die Fachkräfte im Land halten. Amiri und sein Sohn Jamshed glauben aber nicht an eine sichere Zukunft in der Heimat. Jamshed spricht fließend englisch und arbeitete bis vor wenigen Wochen ebenfalls als Dolmetscher. Für die Amerikaner war er 18 Monate im Helmland unterwegs, in Kabul für die Belgier. Diese Zeit ist vorbei. Jamshed ist arbeitslos, sein Vater wird es bald werden.
Ein Leben in Deutschland, für Amiri würde damit ein Traum in Erfüllung gehen. Wohl auch deshalb, weil eine seiner beiden Töchter bereits in Koblenz lebt. Zum Abschied sagt er mir: „Dieses Land ist schon einmal durch einen Bürgerkrieg zerstört worden. Ich habe Angst, dass dies wieder passiert und ich meine Familie nicht beschützen kann. Ich habe einfach nur Angst.“
Als freier Journalist besucht Sven Gückel für einen längeren Zeitraum Afghanistan, um von dort über die Entwicklung des Landes, seine Menschen, aber auch die hier arbeitenden Soldaten zu berichten.