Zeitgeschichte Zeitgeschichte: Wie in Hettstedt Säcke voll mit Stasi-Akten gesichert wurden

Hettstedt - „Die Dokumente gebe ich nur sehr ungerne aus Hand“, sagt Beate Müller, während sie einige Zettel aus einem grünen Ordner aus Pappe zieht. Die Aufzeichnungen und Schreiben, die der Hettstedterin so wichtig sind, liegen nun vor ihr auf dem Tisch. Sie sind für sie so bedeutsam, weil sie festhalten, was in der Kupferstadt zum Ende jenes Jahres geschah, das für die deutsche Geschichte von so großer Bedeutung ist: 1989.
Beate Müller, die eigentlich anders heißt, will ihren richtigen Namen lieber nicht in der Zeitung lesen, weil ihr die Stasi bis heute nicht geheuer ist. Sie war damals als Mitglied einer Hettstedter Bürgerinitiative, die sich im Herbst 1989 gegründet hatte, mittendrin.
Und sie war dabei, als die Initiative im Dezember desselben Jahres die Akten aus dem Hettstedter Kreisamt für Nationale Sicherheit, wie die Stasi nach der Umbennung hieß, versiegelte und ihrer Vernichtung entzog. „Wir wollten, dass all die Unrechtmäßigkeiten aufgeklärt werden, all die Bespitzelungen und Vertuschungen“, sagt Müller, während sie eine Liste mit den Namen der Mitglieder der Initiative aus ihrem Ordner hervorkramt.
Was aber ereignete sich genau in Hettstedt Anfang Dezember 1989, just zu der Zeit, als auch in Eisleben beherzte Bürger Hunderte Stasi-Akten sicherstellten. „Damals sickerte durch, dass die Staatssicherheit Akten vernichtet“, erinnert sich Müller. „Daher drängten wir darauf, vom Staatsanwalt des Kreises Hettstedt eine Vollmacht zu bekommen, die uns dazu befugte, in die Räume der Staatssicherheit einzudringen und dort Akten zu sichern. Diese Vollmacht erhielten wir am 5. Dezember.“
So verlief der Einsatz der Bürgerinitiative am 5. Dezember
Daraufhin legte die Bürgerinitiative los. In einem sechsseitigen, dicht beschriebenen Brief, der mit „Ablauf des Einsatzes“ überschrieben ist und von Müller aufbewahrt wird, rekonstruiert ein mittlerweile verstorbener Mitstreiter die Geschehnisse aus Sicht der Bürgerinitiative. Darin heißt es: „Um 9.30 Uhr begann die Arbeit der Gruppe beim Amt für Nationale Sicherheit. Trotz unseres Protestes wurde nur ein Vertreter der Gruppe eingelassen, der unser Anliegen, wichtige Dokumente zu versiegeln, vortrug.“
Der zu dieser Zeit verantwortliche Mitarbeiter der Dienststelle, heißt es weiter, habe jedoch keine Entscheidung treffen können, da keine Vorgesetzten anwesend gewesen seien. Daher postierte die Initiative eine Person „zur Kontrolle in dieser Einrichtung“ und nahm von dem Mitarbeiter eine Erklärung entgegen, in der dieser „dafür hafte, dass bis zum Eintreffen seiner Vorgesetzten keine Unterlagen des Amtes vernichtet würden“.
Da die Bürgerinitiative auch andernorts Akten sicherte, zog sie zunächst weiter: zur SED-Kreisleitung, zum Wehrkreiskommando, zur Staatsbank, zum FDGB-Kreisverband, zum Volkspolizeikreisamt. Bei der Polizei, so heißt in dem Brief, bemerkte man, wie Akten in einem Ofen verbrannt werden sollten. „Um dieses zu verhindern, verlangten wir energisch Zutritt.“ Daran erinnert sie sich Müller noch ganz genau: „Einer von uns ist durch ein Fenster gesprungen und hat das Verbrennen gestoppt.“
Noch während jene Akten der Polizei versiegelt wurden, die nicht für die Aufrechterhaltung des alltäglichen Betriebs notwendig waren, änderte sich die Lage beim Stasi-Amt: Ein Trabant fuhr aus dem Gebäude heraus. „Mehrere Personen haben sich vor das Auto gestellt und eine Weiterfahrt verhindert“, erzählt Müller. „Es war ersichtlich, dass Unterlagen verschwinden sollten.“
Am Nachmittag des 5. Dezember begab sich die Bürgerinitiative dann wieder zum Stasigebäude. „Nach anfänglichen Schwierigkeiten erhielt die gesamte Arbeitsgruppe Einlass“, heißt es in dem Schreiben. Die Mitarbeiter des Amtes seien zunächst jedoch nicht bereit gewesen, Unterlagen versiegeln zu lassen: „Sie erklärten, es seien keine Unterlagen vorhanden“, sagt Müller. Erst nach einem „längeren Disput“ hätten sie zugegeben, „dass eine Liste nebenberuflicher Zeitarbeiter des Amtes und eine Kartei mit gelben Streifen vorhanden sei. Beides konnte sichergestellt und in einem Panzerschrank verriegelt werden.“
Den Moment, in dem sie Zutritt in die Kreiszentrale der DDR-Geheimpolizei erhielt, wird Müller nicht vergessen. „Ich habe die Ordner in der Hand gehabt, in der die IMs aufgelistet waren. Aber ich habe natürlich aus Sicherheitsgründen nicht reingeschaut“, sagt sie. Und sie erinnert sich an noch etwas: „Als wir reinkamen, konnte ich feststellen, wie die Aktenvernichter heiß gelaufen waren.“
Akten wurden in den „Roten Ochsen“ nach Halle gebracht
Man habe zerschredderte Akten gefunden, die man mit intakten Akten in Säcke gepackt und in den Keller des Amtes geräumt habe. „Wir glaubten aber nicht, dass uns alle Akten gegeben wurden.“
Am 8. Dezember 1989, drei Tage nach der Aktensicherung , wurde nochmals eine Kontrolle im Stasi-Amt durchgeführt, dieses Mal unter Begleitung des Kreisstaatsanwaltes. Dort habe man in allen Arbeitszimmern die Panzerschränke versiegelt, die Akten enthielten: „Dabei fiel auf, dass eine Vielzahl von neuen Aktenschränken in den Arbeitszimmern ohne jegliche Akten vorhanden waren“, so Müller. Am 11. Dezember wurden die Akten schließlich abtransportiert und in den „Roten Ochsen“ nach Halle gebracht. „Es waren insgesamt 21 verplombte Säcke mit Unterlagen.“
Die Hettstedterin erinnert sich oft an diese Zeit. „Ich könnte ein Buch darüber schreiben“, sagt sie, während sie die Aufzeichnungen wieder in ihren grünen Ordner heftet. Die Aktionen der Bürgerbewegung, nicht nur in Hettstedt, sondern überall, werden zu wenig gewürdigt, findet sie. Dabei seien sie so wichtig gewesen: „Ohne die Bürgerbewegung wäre der Umsturz nicht friedlich verlaufen.“ (mz)
