"Giftzug von Hettstedt" "Giftzug von Hettstedt": Umweltskandal sorgte bundesweit für Schlagzeilen

Hettstedt/Helbra - Bei dem Wort „radioaktiv“ schrillen bei Hans-Peter Sommer im Herbst 1994 die Alarmglocken. Seit Monaten stehen 125 Waggons gefüllt mit Hunderten Tonnen hochgiftiger Löserückstände aus der Bleihütte auf dem Hettstedter Güterbahnhof. Das Wort Umweltskandal macht die Runde, denn die beauftragte Entsorgungsfirma aus der Pfalz hat mit falschen Karten gespielt. Sie hat keine Erlaubnis und ist auch nicht in der Lage, die rund 4.000 Tonnen Filterrückstände umweltgerecht aus der Welt zu schaffen. Und dann plötzlich taucht der Verdacht auf, dass die abgestellten Wagen radioaktiv verseucht sind.
Hans-Peter Sommer wurde am 20. Februar 1944 im heutigen Humboldt-Schloss in Hettstedt-Burgörner geboren. Sein Vater, ein Österreicher, fiel im Frühjahr 1945. Seine Mutter stammte aus Mansfeld. Nach dem Studium hat Sommer bis 1990 als Lehrer für Physik, Mathematik, Astronomie und ESP gearbeitet. Nach dem Zusammenbruch der DDR wurde das CDU-Mitglied der erste Landrat des Landkreises Hettstedt. Nach der Fusion mit Eisleben wurde Sommer im Jahre 1994 zum Landrat des Landkreises Mansfelder Land gewählt. Dieses Amt hatte er bis zur Bildung des Landkreises Mansfeld-Südharz zum 1. Juli 2007 inne. In dieser Zeit hat er viel erlebt. Für die MZ plaudert der Ex-Landrat aus dem Nähkästchen.
„Es brach eine regelrechte Hysterie aus“, erinnert sich der damalige Landrat des Landkreises Hettstedt an jene aufregende Zeit in den 1990er Jahren, als der „Giftzug von Hettstedt“ bundesweit für Schlagzeilen sorgte. Um die Wogen vor allem bei den Umweltschützern zu glätten, entschließt sich Sommer zu einem außergewöhnlichen Schritt. Er kauft Geigerzähler und will damit demonstrieren, dass an den Mutmaßungen nichts dran ist.
„Ich musste irgendwas unternehmen, überall wurde die Angst geschürt“, erzählt Sommer. Er ist damals überzeugt, dass die Löserückstände nicht radioaktiv strahlen. Als studierter Physiklehrer kennt er die Zusammensetzung der Rückstände aus dem Verhüttungsprozess. Nach den vorgenommenen Analysen enthalten sie vor allem Nickel, Blei, Chrom, Antimon, Selen, Zinn und Zink. Auch Spuren von Arsen lassen sich nachweisen.
Also beauftragt Sommer sein Umwelt- und das Gesundheitsamt Geigerzähler, die Strahlung messen können, zu beschaffen. Damit gehen der Landrat und Mitarbeiter am 28. November zu den Waggons. Sie finden keine außergewöhnliche Steigerung der sonst messbaren Strahlung. Sommer fühlt sich bestätigt. Doch als er danach den Abhang von den Gleisanlagen zur Straße hinuntergeht, fangen die Geigerzähler an zu ticken. Der Grund dafür wird schnell klar: Der Hang ist mit Schiefer aufgeschüttet - und der strahlt radioaktiv. „Doch alle gemessenen Werte bleiben weit unter den damaligen Grenzwerten“, versichert Sommer.
Ruhe kehrt allerdings um den „Giftzug von Hettstedt“ noch lange nicht ein. Die Verträge zur Entsorgung der Rückstände haben zwar die private Firma MFD Recycling GmbH aus Landau/Pfalz und die Gemeinnützige Sanierungsgesellschaft Mansfelder Land (GSG) als Tochter der Mansfeld AG, dem Nachfolger des Mansfeld-Kombinates, abgeschlossen.
Unternehmen kassiert Geld für Entsorgung und haut ab
Doch im Zuge der Fusion der Kreise Hettstedt und Eisleben im Jahre 1994 wird der neue Landkreis Mansfelder Land der Hauptgesellschafter der GSG. „Plötzlich saß ich voll mit im Boot“, so Sommer, der Vorsitzender der Gesellschafterversammlung wird. Das Ökologische Großprojekt Mansfelder Land wird in dieser Zeit aus der Taufe gehoben. Dieser Schritt ist notwendig geworden, weil die Treuhand und der Bund die Mittel zur Altlastenbeseitigung neu verteilen wollen. Außerdem ist die GSG als damals größte Sanierungsgesellschaft in der Region in ihrer Existenz bedroht.
Sie hat nämlich dem Pfälzer Unternehmer schon vorab rund 1,3 Millionen D-Mark bezahlt für die Entsorgung der Löserückstände. Doch der hat sich aus dem Staube gemacht. „Ich hatte Druck von allen Seiten“, räumt Sommer ein. Er erstattet Anzeige. Auch Umweltschützer aus Hettstedt und Helbra sitzen ihm im Nacken. Sie wollen verhindern, dass die giftigen Staube bei Helbra eingelagert werden. Diese Idee ist entstanden, als klar wurde, dass die von der Pfälzer Firma vorgeschlagene Entsorgung in Leuna eine Luftnummer ist.
Jahrelang zieht sich der Streit um den „Giftzug“ hin. Inzwischen hat Hettstedt durch ihn bundesweit traurige Berühmtheit erlangt. In Fotoausstellungen wird der „Castor von Hettstedt“ abgebildet. Schüler des Marktgymnasiums fühlen sich durch ihn zu einer Umwelt-Kantate animiert. Im November vor 20 Jahren feiert das Kunstwerk seine festliche Uraufführung mit 130 Mitwirkenden. Ein Jahr später ist es soweit: Alle Hürden sind genommen. Die Löserückstände werden in über 6.000 Bigbags verpackt und auf der Deponie Teich 10 in Helbra unter strengen Sicherheitsvorkehrungen in die Erde gebracht.
2,5 Millionen D-Mark kostet das Unterfangen. Zum Start im Sommer 1997 kommt sogar Staatssekretär Wolfgang König, später Präsident des Bundesamtes für Strahlenschutz. Der Unternehmer aus der Pfalz, der den Umwelt-Skandal ausgelöst hat, erhält zehn Monate auf Bewährung und eine Geldstrafe in Höhe von 12.000 D-Mark. Für Sommer ist das Kapitel Löserückstände allerdings nicht abgeschlossen. Er glaubt, dass die Säcke, in denen sich vier verschiedene Stoffe befinden, eines Tages wieder herausgeholt werden, um an die wertvollen Metalle zu gelangen. (mz)
Beim nächsten Mal geht es um den Wirbel mit den Bären von Walbeck.

