Ein Gen tanzt aus der Reihe Ein Gen tanzt aus der Reihe: Mia aus Hettstedt kämpft mit einer seltenen Krankheit

Hettstedt - Dass mit ihrem Baby etwas nicht stimmt, spürt Yvonne Förster schon während der Schwangerschaft. Untersuchungen ergeben, dass das Ungeborene klein und auch sehr leicht ist. Die werdende Mutter aus Hettstedt (Mansfeld-Südharz) macht sich Sorgen. Diese weichen auch nicht, als Mia Sophie im Oktober 2014 das Licht der Welt erblickt.
Sie wiegt nur 1870 Gramm. Normal wären etwa 3000. Sie misst gerade mal 44 Zentimeter. Normal wären ungefähr 50. Ihr Kopfumfang beträgt 29 Zentimeter. Normal wäre ein Wert um die 35. An den Füßen hat Mia Lymphödeme, also sichtbare Flüssigkeitsansammlungen. Und bald stellt sich heraus, dass auch mit ihren Augen etwas nicht in Ordnung ist.
Drei Jahre bis zur richtigen Diagnose
Nach der Geburt entwickelt sich das Baby nicht gut. Es trinkt kaum, nimmt nur wenig zu. Yvonne Förster ist mit der Kleinen Dauergast bei Ärzten. Sie will wissen, was ihr fehlt. Im März 2015, da ist Mia ein halbes Jahr alt, wird sie Patientin von Dr. Pablo Villavicencio Lorini. Er leitet die Klinische Genetik des Instituts für Humangenetik am Universitätsklinikum Halle.
Aber auch der Oberarzt und seine Mitarbeiter finden keine schnelle Antwort auf die Frage, warum das Baby eine sogenannte Gedeihstörung und einen viel zu kleinen Kopfumfang hat. Sie setzen alle Hebel in Bewegung, um der Ursache auf die Spur zu kommen. Im Mai 2018 können Pablo Lorini und Mareike Bauer, die damals als Medizinstudentin ihr Praktisches Jahr absolviert, schließlich die Diagnose stellen: Kif11-Syndrom.
Es ist ein äußerst seltener Gendefekt, der erstmals 2012 entschlüsselt wurde. In Deutschland sind neun Fälle bekannt. „Weltweit wurden bisher 85 Fälle beschrieben“, sagt Lorini. Wie häufig der Defekt wirklich vorkommt, sei unbekannt.
Mia aus Hettstedt: Ihre Krankheit ist selten und kompliziert
Die offizielle Bezeichnung der Krankheit lautet MCLMR. Es handelt sich um die Abkürzung ihrer charakteristischen klinischen Befunde. Lorini zählt auf: Mikrozephalie, also ein zu kleiner Kopfumfang, Chorioretinopathie, das ist eine Veränderung der Netz- und Aderhaut des Auges, Lymphödeme und geistige Entwicklungsauffälligkeiten.
Ausgelöst wird das durch eine Mutation, das heißt eine Veränderung, im Kif11-Gen. Dieses ist, vereinfacht gesagt, mitverantwortlich für Zellteilungsprozesse, die in diesem Fall wahrscheinlich schon im Mutterleib gestört worden sind.
Ein so langer Weg zur Diagnose sei bei seltenen Erkrankungen nicht ungewöhnlich, sagen die beiden Mediziner. Manchmal ende er auch in einer Sackgasse. „Selbst mit modernsten Untersuchungsmethoden wird nur eine Diagnoserate von 60 Prozent erreicht“, fügt Lorini hinzu. „Die Humangenetik ist eine junge Fachdisziplin der Medizin. Insgesamt sind in zirka 5000 der ungefähr 21.000 menschlichen Gene Mutationen bekannt, die Krankheiten verursachen“, sagt er. Jedoch sei der Wissenszuwachs enorm, so dass beinahe täglich neue Erkenntnisse hinzukämen.
Mediziner erkennen nur langsam die Kankheitsursache
Bei Mia konzentrieren sich die Mediziner zunächst auf den angeborenen zu kleinen Kopfumfang. Sie untersuchen die Chromosomen, das heißt die Träger des Erbguts, aber parallel - mit modernen Multigen-Analysen - auch zahlreiche Krankheitsgene. Schritt für Schritt erweitern sie ihre Recherchen, forschen in Datenbanken, wo verschiedene genetisch bedingte Krankheitsbilder beschrieben sind.
Wie bei einem Puzzle fügen sie Teil um Teil zusammen. Ein vollständiges Bild ergibt sich erst, als der Begriff Chorioretinopathie, das ist die Augenerkrankung, fällt. Die sehr komplexen und zeitaufwendigen Untersuchungen werden noch einmal erweitert. Nun stoßen die Ärzte auf das veränderte Kif11-Gen. „Es war die siebte oder achte Stufe der Untersuchungen, nach der wir sagen konnten: Wir haben es“, erzählt Lorini. Es ist auch für ihn ein besonderer Moment.
Mia aus Hettstedt: Essen ist ein Dauerproblem
Yvonne Förster hat in der Zeit des Wartens und Hoffens die Entwicklung von Mia genau dokumentiert. Sie ist elf Monate, als sie sich zum ersten Mal allein aufrichtet. Entsprechend spät fängt sie an zu krabbeln. Mit 18 Monaten kann sie laufen. Bis heute braucht sie Windeln.
Ein Dauerproblem ist das Essen. Mia erhält nach einer Ernährungsberatung spezielle kalorienreiche Kost. Aber die Mutter braucht viel Geduld, um sie überhaupt dazu zu bewegen, etwas zu sich zu nehmen. Es trifft sie schwer, als eine Frau beim Anblick des zierlichen Mädchens sagt: „Wollen Sie ihr nicht mal etwas zu essen geben?“
Die Hettstedterin ist froh, als endlich Gewissheit herrscht. Sie findet deutschlandweit acht Familien, die ihr Schicksal teilen. Es entsteht eine Selbsthilfegruppe. Die Eltern der Kif11-Kinder, das jüngste ist 16 Monate und das älteste neun Jahre alt, tauschen sich aus, geben selbst Ärzten wertvolle Hinweise.
Selbsthilfegruppen: Eltern geben sich gegenseitig Hilfe
Etwa den, dass das Lymphsystem des Darms von der Krankheit betroffen sein könnte. Die Vermutung bestätigt sich. Lorini unterstreicht, wie wichtig solche Selbsthilfegruppen seien. Einerseits für die Familien, die sich gegenseitig stützten. Andererseits böten sie Ärzten die Möglichkeit, etwas über den Verlauf einer Krankheit zu erfahren. Woraus die Ärzte dann medizinische Erkenntnisse gewinnen könnten, die wiederum den Patienten zugute kämen.
Die neun Familien, in denen ein Kind mit Kif11-Syndrom lebt, haben die Selbsthilfegruppe „Kif11 Kids e.V.“ ins Leben gerufen. Sie suchen Kontakt zu möglicherweise weiteren bislang unbekannten Betroffenen, zu Fachärzten, Therapeuten oder einfach Interessierten.
Ziele der Selbsthilfegruppe sind die Information und Beratung Betroffener und die Förderung eines Erfahrungsaustausches. Sie möchte darüber hinaus ihre Anliegen in die Öffentlichkeit tragen und nicht zuletzt der Ärzteschaft Informationen liefern sowie Wissenschaft und Forschung unterstützen.
Mehr Informationen unter: www.kif11kids.com
Kontakt: [email protected]
Diese Zusammenarbeit sei auch Intention des Nationalen Aktionsbündnisses für Menschen mit seltenen Erkrankungen, das 2010 vom Bundesgesundheitsministerium und einem Verbund von Selbsthilfegruppen ins Leben gerufen wurde.
Jüngst haben sich die Mitglieder der Selbsthilfegruppe Kif11-Kids in Wertheim (Baden-Württemberg) getroffen. Der hallesche Oberarzt Lorini und die mittlerweile approbierte Ärztin Bauer waren dabei. „Wir sind sehr wissbegierig, die Erfahrungen der anderen Familien zu sammeln“, sagen beide.
Mia, heute vier Jahre alt, ist 92 Zentimeter groß. Sie wiegt etwas mehr als zehn Kilogramm. Alles weit unter dem Normbereich für Kinder in ihrem Alter. Die Mutter erzählt, dass sie auch geistig weit zurück ist. Ihre kleine Schwester Maya, knapp zwei Jahre alt, hat sie inzwischen bei allen Parametern überflügelt. Aber sie zieht Mia auch mit.
Yvonne Förster macht sich viele Gedanken, wie die Zukunft ihrer Tochter aussehen wird, der Pflegegrad 3 zuerkannt wurde. Sie fürchtet, dass sie wegen des Augenleidens erblinden könnte. Und wird sie jemals allein leben können? Oder ein Leben lang Hilfestellung brauchen? Es sind Fragen wie diese, die ihr im Kopf herumgehen. Fragen, auf die es noch keine Antwort gibt. An denen aber fieberhaft gearbeitet wird. (mz)