Zachow Stadtteilserie 5 Zachow Stadtteilserie 5: Landrain

Halle (Saale)/MZ. - Man nehme nur einmal den Galgenberg: „An sonnigen Tagen gibt es eine wahre Völkerwanderung dorthin”, erzählt die 50-Jährige. Mit ihrer Familie hat sie selbst unzählige Male den Picknick-Korb gepackt, eine Sitzdecke geschnappt und ist zu den beiden exakt 136,4 Meter (Großer Galgenberg) und 129,6 Meter (Kleiner Galgenberg) hohen Porphyrkuppen gepilgert. Deren furchteinfl ößender Name geht übrigens darauf zurück, dass hier bis 1798 der Galgen des heute nach Halle eingemeindeten Ortes Giebichenstein stand. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde das Areal intensiv als Steinbruch genutzt und ab 1950 für die Naherholung entwickelt. „Ich komme gern hierher, genieße mit Freunden bei Rotwein und Zigarre den Ausblick“, erzählt Thomas Koschitzki und ergänzt: „Der Rundweg um den Großen Galgenberg ist auch eine ideale Jogging-Strecke.“ Auch Sportkletterer (neudeutsch: Boulderer) haben in der Schlucht eine Heimstatt gefunden. Und dann ist da noch der alljährliche Höhepunkt: Das Abschlusskonzert Händelfestspiele, an dessen Ende traditionell die Feuerwerksmusik des Barockmeisters und ein zu den Klängen choreographiertes Feuerwerk stehen.
Höchst lebendig geht es auch auf dem weiträumigen Spiel- Areal am Kleinen Galgenberg zu. Am Mispelweg ist eine Reihe von Einfamilienhäusern entstanden, in die vornehmlich junge Familien eingezogen sind. Nun tollen zahlreiche Kinder zwischen Sandkasten, Rutsche und Klettergerüst herum. Auch die Sanierung der Wohnblocks am Landrain selbst trage zur Veränderung der Einwohnerstruktur bei: „Plötzlich sehe ich wieder junge Familien mit Kindern”, erzählt Kerstin Wilhelm.
Zwei-Zwei-Halbe macht vier
Von Kindern, und zwar vielen, weiß auch Hansjörg Possekel zu berichten. Der heute 81-Jährige ist 1962 in einen der frisch errichteten Wohnblocks direkt am Landrain, gleich gegenüber des Gertraudenfriedhofs, eingezogen. „Es gab 18 Mietparteien und mehr als 40 Kinder”, erzählt der Senior und verweist auf eine Besonderheit. „Bei uns im Block sind das alles sogenannte Zwei-Zwei-Halbe-Wohnungen.” Was zunächst wie eine unlösbare Rechenaufgabe anmutet, ist im Grunde rasch erklärt: Zu zwei „ausgewachsenen” Räumen – Wohn- und Schlafzimmer – kommen noch zwei kleine, gewissermaßen „halbe” (Kinder-) Zimmer mit jeweils knapp zehn Quadratmeter Fläche hinzu. Der gelernte Schlosser, der den Kiez bereits seit seinen Kindertagen kennt und zudem zu DDR-Zeiten als „Feierabend- Handwerker” Instandhaltungsarbeiten für die Wohnungsgenossenschaft ausführte, ist ohnehin eine Art Kompendium in Sachen Baugeschichte am Landrain. „Bis in die 50er Jahre hinein gab es hier den Gertraudenfriedhof und ausgedehnte Gärtnereianlagen und ansonsten: Kornfeld.”
Ende der 50er, Anfang der 60er Jahre seien dann am Landrain die ersten Mietshäuser hochgezogen worden. In den Folgejahren wurde sukzessive das Ackerland zwischen Landrain und dem südlich gelegenen Bahndamm bebaut. Nach der Wende habe es fast zwangsläufi g einen Entwicklungsschub gegeben, als Häuser saniert, Fassaden bunt gestrichen, Parkplätze angelegt und Innenhöfe bepfl anzt wurden – „richtig schön”, wie der Ruheständler sagt. Possekel zählt ausdrücklich auch die „frische Luft” zu den ganz besonderen Vorzügen seines Kiezes. Auch wenn man zu DDR-Zeiten von Industrieschwaden wie etwa aus Buna und Leuna verschont blieb, war dies früher dennoch nicht immer so: „Etwa zweimal pro Woche wurden im Krematorium des Gertraudenfriedhofs Einäscherungen vorgenommen. Dann stieg eine pechschwarze Wolke auf, und es legte sich eine fettige Rußschicht auf unsere Fensterbänke.”
Spaziergänger im „wilden Paradies”
„Dies ist, modernen Filtertechniken sei Dank, natürlich längst passé”, sagt Heike Bunge, die Leiterin des Gertraudenfriedhofs, dem wir zum Abschluss unseres Streifzuges am Landrain einen Besuch abstatten. Wer noch nicht dort war, sollte unbedingt mal hingehen: Gerade im Eingangsbereich, noch vor den Gräberfeldern, hat das 1914 eröff nete und insgesamt 50 Hektar große Areal viel mehr etwas von einem idyllischen Park. Spaziergänger drehen ihre Runden um den Teich und verweilen auf Bänken, Steppkes laufen an der Hand ihrer Großeltern, Roller und Kinderwagen werden geschoben. Und da, wo die Bewirtschaftung aufhört und “das wilde Paradies beginnt“, wie Kerstin Wilhelm schwärmt, kann man sogar Füchse, Hasen und Spechte beobachten. Also keineswegs makaber, sondern wahr: Selbst hier geht es in gewisser Weise quicklebendig zu.
