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Wunder am Bergmannstrost Wunder am Bergmannstrost: Wie der Hallenser Leon Meiling sich mit Kung Fu zurück ins Leben kämpfte

Von Bärbel Böttcher 28.09.2017, 10:30
Dr. Kai Wohlfarth (im Hintergrund) beobachtet Großmeister Chu Tan Cuong und seinen Stiefsohn Leon Meiling bei ihren Atemübungen.  
Dr. Kai Wohlfarth (im Hintergrund) beobachtet Großmeister Chu Tan Cuong und seinen Stiefsohn Leon Meiling bei ihren Atemübungen.   Andreas Stedtler

Halle (Saale) - In der Nacht, in der Leon Meiling aus dem Koma erwacht, ist er voller Panik. „Was mache ich hier im Krankenhaus?“, fragt er sich. An den Autounfall, der bereits 17 Tage zurückliegt, kann sich der 20-Jährige nicht erinnern.

Dass er am 17. Juli auf dem Weg zu seiner Lehrstelle von der Straße abgekommen und gegen einen Baum geprallt ist, hört er später aus den Erzählungen seiner Angehörigen. Auch die MZ berichtete damals über den schweren Unfall.

Äußerlich ist der junge Mann bis auf ein paar Schnittverletzungen unversehrt. Aber durch den Unfall erleidet er mehrere Hirnblutungen. Die Diagnose lautet: schweres Schädel-Hirn-Trauma.

Leon Meiling wurde künstlich beatmet - Freundin Jessica wich nicht von seiner Seite

Leon Meiling liegt auf der Intensivstation des Berufsgenossenschaftlichen Klinikums Bergmannstrost in Halle. Er wird künstlich beatmet. Der Schlauch in seiner Luftröhre macht es ihm unmöglich zu sprechen. Schreibblock und Stift helfen bei der Verständigung - unter anderem mit seiner Freundin Jessica Schiller, die in dieser Zeit nicht von seiner Seite weicht.

Durch das lange Liegen haben sich zudem die Muskeln zurückgebildet. Er kann Arme und Beine kaum anheben, sich nicht aus eigener Kraft aufrichten. „Das war für mich ein Schock“, erzählt der junge Mann.

Die Ärzte gehen davon aus, dass sein Gehirn eine sehr lange Regenerationsphase braucht. „Bei Patienten, die ähnliche Verletzungen aufweisen, rechnen wir mit mehreren Monaten. Mitunter dauert es sogar bis zu einem Jahr“, sagt Dr. Kai Wohlfarth, Direktor der Kliniken für Neurologie und Frührehabilitation.

Kung-Fu: Hilfe von Großmeister Chu Tan Cuong

Leon Meiling, der das Krankenhaus nach nur neun Wochen wieder verlassen konnte, lächelt, wenn er heute diese Prognosen hört. „Ich hatte ein großes Verlangen, so schnell wie möglich wieder selbstständig zu atmen, zu sprechen, zu laufen, mich zu bewegen“, betont er. Deshalb wendet er sich an seinen Stiefvater, der selbst schon darüber nachgedacht hat, wie er dem Jungen helfen kann.

Sein Stiefvater, das ist der Kung-Fu-Großmeister Chu Tan Cuong. Der Vietnamese, der seit mehr als 35 Jahren in Halle lebt, ist durch zahlreiche spektakuläre Aktionen bekannt geworden. Er hält 14 Guinness- und Weltrekorden, schiebt mit einer Speerspitze unterm Kehlkopf Autos und sogar Zugwaggons.

Mit dem Unterarm zerschlägt er 20 Baseballschläger in einer Minute und mit einem rohen Ei in der Hand gefüllte Wasserflaschen - ohne dass das Ei kaputt geht. „Alles eine Frage der Konzentration und vor allem der Atemtechnik“, sagt er.

Kampf gegen den Stress mit der richtigen Atemtechnik 

Er hat daraus ein Konzept namens „Noi Cong Chu Tan“ entwickelt, mit dem er jenseits aller Verrücktheiten vielen Menschen in verschiedensten Institutionen und Kliniken hilft, akuten Stress abzubauen und so psychischen Erkrankungen vorzubeugen. „Mit der richtigen Atemtechnik kommt der Mensch zu innerer Ruhe“, erklärt der 54-Jährige, der die Kampfkunstschule „Vo-Dao-Vietnam“ aufgebaut hat.

Chu Tan Cuong will mit seinem Konzept nun auch seinem Stiefsohn helfen. In Kai Wohlfarth findet er einen Arzt, der dafür aufgeschlossen ist. Und er beginnt sofort, mit Leon zu arbeiten. Anfangs geht es nur um die Atmung. „Es hat mir richtig wehgetan, als bei den ersten Übungen nur so etwas wie ein Röcheln herauskam“, sagt der Großmeister. 

Doch sein Stiefsohn macht schnell Fortschritte. Schon nach einer Woche kann der Atemschlauch entfernt werden. Nun kommen weitere Elemente hinzu, die alle ihren Ursprung in der asiatischen Kampfkunst Kung-Fu haben: gezielte Bewegungen, Koordinations- und Konzentrationsübungen und eine spezielle Art der Meditation. Dazu gehört, dass der Patient schriftlich dokumentiert, was er geschafft hat. All das trainiert das Gehirn.

Wer Leon auf dem Krankenhausflur sah, hätte ihn für einen Besucher halten können

Leon Meiling absolviert dreimal am Tag die vom Großmeister aufgegebenen Übungen. Zuerst im Bett, dann im Rollstuhl. Doch schon bald bewegt sich der junge Mann sicher auf seinen zwei Beinen. Wer ihm auf dem Krankenhausflur begegnet, der könnte ihn für einen Besucher halten.

Doch noch ist Leon Meiling Patient. Und zwar ein ungewöhnlicher. Morgens, nach seinen Atemübungen, joggt er im Klinikpark - zuletzt fünf bis zehn Minuten. Es folgen Dehnungsübungen, die durch Liegestütze und Kniebeuge ergänzt werden. Danach geht es unter die Dusche, deren Strahl ihn erst heiß, dann lauwarm und zuletzt eiskalt trifft.

Nach diesem furiosen Start in den Tag folgen die Behandlungen in der Klinik: Physiotherapie, Ergotherapie, Logopädie und vieles mehr, was nötig ist, um eine Rückkehr in Alltag und Beruf zu ermöglichen. Der junge Patient kann von allem nicht genug bekommen, fühlt sich manchmal unterfordert. 

Über den Tellerrand geschaut: Mediziner spricht von einem Wunder

Seit dem Unfall sind da gerade mal vier, fünf Wochen vergangen. Natürlich durchlebt der Hallenser auch kleine Krisen. Zweimal bekommt er Fieber. Es sind eher unspezifische Beschwerden. Die Panik, die dadurch in ihm aufsteigt, atmet er buchstäblich weg.

Die Ärzte sind von den Fortschritten ihres Patienten beeindruckt. „Ich gehe davon aus, dass die zusätzliche Therapie den Heilungsprozess nach diesem schweren Schädel-Hirn-Trauma entscheidend unterstützt hat“, meint der Neurologe Kai Wohlfarth.

Sowohl auf der motorischen als auch auf der kognitiven Ebene habe es binnen kürzester Zeit deutliche Verbesserungen gegeben. „Wir sehen hier viele Patienten mit einem Schädel-Hirn-Trauma“, sagt er. Aber ein solcher Fall sei noch nicht beobachtet worden. Der Mediziner zögert lange. Aber dann spricht er doch von einer Art Wunder. „Ich weiß nicht, wie ich es sonst ausdrücken soll“, fügt er hinzu. 

Aber: Auch ohne die Schulmedizin ging es nicht

Es ist Chu Tan Cuong, der betont, dass sein Konzept nur Teil einer multidisziplinären Behandlung ist. „Ganz ohne die Schulmedizin geht es nicht“, betont er. „Ohne die Schulmedizin wäre Leon jetzt wahrscheinlich tot.“ Der Kung-Fu-Großmeister, der Jura und Musik studiert hat, ist gleichzeitig dankbar, dass ein Schulmediziner über den berühmten Tellerrand schaut und ihm ermöglicht, mit alternativen Methoden etwas zu Genesung seines Stiefsohns beizutragen.

Kai Wohlfarth denkt indes schon weiter. Im Therapie-Gebäude sei das alternative Konzept ein ganz wesentlicher Baustein gewesen, betont er. Möglicherweise könnten damit ja auch andere Schädel-Hirn-Trauma-Patienten „aus der Tiefe herausgeführt werden“.

Der Mediziner plädiert für eine engere Zusammenarbeit von Schul- und Alternativmedizinern. Ganz ohne Scheuklappen. Er und Chu Tan Cuong haben jedenfalls schon die Köpfe zusammengesteckt, was da möglich ist. Auch, um die Krankenkassen letztlich von solchen Methoden zu überzeugen.

Gesunde Lebensführung: Keine Zigaretten, kein Alkohol

Leon Meiling kommt nach dem Unfall allerdings auch seine Jugend entgegen. Der 20-Jährige ist zudem ein sportlicher Typ. Und er hat sich, dank des Stiefvaters, schon jahrelang mit Kung-Fu beschäftigt. Das Konzept des Großmeisters ist für ihn nicht neu.

Kung-Fu heißt wörtlich übersetzt übrigens, dass etwas durch harte, geduldige Arbeit erreicht wird. Dass Leon willensstark und ehrgeizig ist, das bestätigt Chu Tan Cuong. Außerdem lebe er vernünftig, rauche und trinke nicht - alles sehr gute Voraussetzungen für den raschen Genesungsprozess.

Der Patient selbst führt noch etwas ganz anderes an: „Es war für mich ganz wichtig, dass meine Freundin immer bei mir war“, sagt er. Ihr, aber auch allen anderen Mitgliedern seiner großen Familie habe er zeigen wollen, dass es ihm nicht schlecht gehe. „Wenn die Unterstützung von Familien und Freunden fehlt, wenn man da ganz allein in seinem Krankenzimmer liegt, dann wird man verrückt“, unterstreicht er. Der Heilungsprozess verlaufe dann langsamer.

Nun, nach der Entlassung aus der Klinik vergangene Woche, möchte Leon Meiling beruflich bald wieder Tritt fassen. Noch ein halbes Jahr Lehre trennt ihn vom Abschluss als Pharmakant. Das nimmt er jetzt in Angriff. Im Moment ist er zwar noch krankgeschrieben. Aber die Bücher liegen schon bereit.

(mz)

Leon Meiling ist seiner Freundin Jessica Schiller für den Beistand   dankbar.  
Leon Meiling ist seiner Freundin Jessica Schiller für den Beistand   dankbar.  
T. Ostoiki