Und häufig laufen Tränen Wie Pfarrerin im Gefängnis Roter Ochse in Halle Beistand gibt
Pfarrerin Barbara Sonntag steht Gefangenen im Roten Ochsen als Seelsorgerin zur Seite. Ihren Beistand suchen vor allem Menschen ohne Konfession.

Halle (Saale) - Barbara Sonntag legt eine Serviette auf den Tisch, stellt ein schlichtes metallenes Kreuz darauf und zündet ein Teelicht an. Damit hat sie den Rahmen geschaffen für das, was nun folgen soll: ein seelsorgerisches Gespräch mit einer Frau oder einem Mann, die im Gefängnis Roter Ochse in Haft sind. „So mache ich deutlich, dass wir dieses Gespräch nicht allein führen, dass auch der liebe Gott da ist“, erzählt die evangelische Pfarrerin. Sie lade ihr Gegenüber dann zu einem Gebet ein und dazu, an die zu denken, die ihm nahestehen. Für den Fall, dass dann die Tränen zu laufen beginnen - und das kommt in diesen Momenten häufig vor, wie die Pfarrerin berichtet, und zwar bei Frauen wie Männern, liegt ein Päckchen Papiertaschentücher bereit.
„Keiner ist freiwillig hier“, sagt Barbara Sonntag über die Menschen, die ihren Beistand suchen. Und ganz gleich, was jemand auf dem Kerbholz hat: „Ich habe Verständnis dafür, dass es ihnen dreckig geht.“ Was wohl die Angehörigen jetzt denken? Ob die Frau sich jetzt scheiden lässt? Werden die Kinder sich von Vater oder Mutter lossagen? Viele Fragen beschäftigten die Gefangenen, weiß die Pfarrerin aus ihrer beruflichen Praxis. Auf viele gebe es vorerst keine Antworten. Im Ausnahmezustand seien die Familien draußen wie die Gefangenen drinnen. Barbara Sonntag kann ihnen helfen, die Ungewissheit auszuhalten.
„Ich schließe Sie heute Abend in mein Gebet ein.“
Dabei gehe es nicht darum, zu missionieren, sagt sie, auch wenn durchaus schon Menschen während ihrer Haftzeit zum Glauben gefunden hätten. Einmal zum Beispiel hat eine Frau aus dem Harz, wieder auf freiem Fuß, die Pfarrerin zu ihrer Taufe eingeladen. Die meisten Gefangenen aber seien konfessionslos und blieben es möglicherweise ihr Leben lang. Dennoch habe noch nie jemand abwehrend reagiert, wenn sie ihm nach dem seelsorgerischen Gespräch sagt: „Ich schließe Sie heute Abend in mein Gebet ein.“
Das ist in diesen Zeiten vielleicht noch tröstlicher als sonst, denn mit Corona ist auch die Welt hinter Gittern beschränkter geworden. So dürfe weniger Besuch kommen. Wer neu kommt, müsse zunächst in Quarantäne, erzählt Barbara Sonntag. Auf sich selbst zurückgeworfen, vielleicht noch von Entzugserscheinungen gequält, müssen die Gefangenen diese ersten Tage absitzen. Gespräche mit der Pfarrerin, die in dieser Zeit unter Einhaltung der Hygieneregeln dennoch stattfinden können, sind da einer von wenigen Lichtblicken. „Die Zeit nach der Quarantäne erscheint vielen wie das Paradies“, hat die Pfarrerin beobachtet. Endlich wieder in Kontakt zu anderen Menschen treten!
„Jetzt haben Sie aber ein elastisches Gewissen“
Barbara Sonntag - außer ihr leisten noch eine katholische Ordensschwester und ein katholischer Pfarrer Seelsorge im Roten Ochsen - versucht immer, hinter der Tat den Menschen zu sehen. Zur Sozialromantikerin macht sie das nicht. „Jetzt haben Sie aber ein elastisches Gewissen“, sagt sie schon einmal zu ihrem Gegenüber, wenn sich jemand einreden will, dass alles schon nicht so schlimm sei. „Ich bestätige Gefangene nicht in ihrem Opfersein“, stellt die Pfarrerin klar. Das sei ein gravierender Unterschied zu ihrer früheren Tätigkeit als Krankenhausseelsorgerin in Jena. „Im Krankenhaus geht es viel mehr darum, Leiden zuzulassen.“ Aber es gebe Parallelen: „Niemand ist freiwillig da, es geht um existenzielle Ausnahmesituationen, und ich bewege mich hier wie da in einem atheistischen Umfeld.“
Dass sie nicht glauben, hält viele Gefangene nicht davon ab, die Gottesdienste in der Gefängniskirche zu besuchen. Sicher auch, weil diese Abwechslung bringen, daraus macht Barbara Sonntag keinen Hehl. Aber eben auch, um Trost zu finden. Als besonders emotional erlebt die Pfarrerin immer wieder die Momente zu Beginn des Gottesdienstes, in denen die Besucher einzeln nach vorn treten, eine Kerze anzünden - und innehalten, vielleicht beten, auf jeden Fall aber Kraft schöpfen. (mz)