Terroranschlag in Halle Terroranschlag in Halle: Auch viele Kinder bekommen verstörendes Video zu sehen

Halle (Saale) - Der Anschlag in Halle war ein Schock. Für Halle, für die Welt, aber auch für zahlreiche Eltern, deren Kinder plötzlich das Original-Video des Täters auf ihrem Handy sehen konnten. Elf Minuten - oder sogar 35 in der ganzen Version - dokumentieren den Hass des Täters, seinen Weg durch das Paulusviertel und die letzten Minuten der Opfer - ungefiltert, schrecklich.
Während die Ethik im Journalismus die Veröffentlichung derartiger Bilder verbietet, nimmt das Internet keine Rücksicht. Rasend schnell habe sich die Aufnahme verbreitet, sagt Medienexperte Hendrik Odendahl. Wie das passieren konnte und wie Eltern reagieren sollten, wenn ihr Kind das Video geschickt bekommen hat, haben Experten der MZ erläutert.
Wie konnte sich das Video so schnell verbreiten?
„Im Prinzip sind wir alle in die Falle getappt“, sagt Susanne Vollberg, Professorin der Medienwissenschaft an der Uni Halle. „Die mediale Aufmerksamkeitsmaschine ist sofort angesprungen, und das war das Ziel des Täters.“ Dieser hatte das Video live auf der Plattform Twitch gestreamt, einem Videoportal, das vorrangig zur Übertragung von Videospielen genutzt wird.
Laut Hendrik Odendahl haben nur fünf Menschen die Aktion live mitverfolgt. Doch noch bevor die Aufnahme vom Anbieter gelöscht werden konnte, haben es mehr als 2.000 Nutzer angeklickt, zum Teil gespeichert und über Messengerdienste wie WhatsApp oder Telegram geteilt. „Innerhalb der ersten 30 Minuten wurde das Video über Telegram fast 15.000 Mal geteilt“, sagt Odendahl.
Ist das Weiterleiten solcher Bilder nicht verboten?
Zumindest kann das Verbreiten von Gewaltdarstellungen gemäß Paragraf 131 StGB strafrechtlich verfolgt werden. Auch deswegen hatte das Bundeskriminalamt über Twitter aufgerufen, das Tatvideo oder die URL dazu auf seinem Hinweisportal hochzuladen sowie bei der örtlichen Polizei Strafanzeige zu erstatten. Laut Netzwerkdurchsetzungsgesetz sind Anbieter sozialer Medien dazu verpflichtet, solche Inhalte sofort zu löschen. E-Mail- oder Messengerdienste wie WhatsApp fallen hingegen nicht unter diese Regelung.
Was können Eltern tun, deren Kinder das Video bekommen haben?
Grundsätzlich seien Eltern von Kindern unter 16 Jahren in der erzieherischen Pflicht zu schauen, was ihr Nachwuchs auf dem Handy macht, sagt Hendrik Odendahl, der als Digitaltrainer in Schulen den Umgang mit Medien lehrt. Zudem sei etwa WhatsApp erst ab 16 Jahren erlaubt. Nur: Wie will man den Messengerdienst verbieten, wenn sich ein Teil des Alltags in Klassenchats oder ähnlichem dort abspielt? „Deswegen ist es so wichtig, dass Eltern wissen, was ihre Kinder online machen“, sagt Odendahl.
Das erfordere Fingerspitzengefühl. „Wir müssen davon ausgehen, dass die meisten Kinder ihren Eltern nichts von dem Video erzählt haben, einfach, weil sie Angst haben, dass sie das Handy dann abgeben müssen“, so Odendahl. Eltern sollten ruhig bleiben, auch wenn sie aufgewühlt sind. Eventuell finden sie heraus, von wem das Video geschickt oder ob es weitergeleitet wurde und könnten so andere Eltern informieren.
Wie können Erwachsene Kindern helfen, das Geschehene zu verarbeiten?
„Dieses Video macht wütend, traurig und löst Ängste aus“, sagt Annegret Brauer. Die Fachärztin für Kinderpsychiatrie und Psychotherapie hatte in den vergangenen Tagen schon einige Patienten in ihrer Praxis in der Ludwig-Wucherer-Straße, die ihr von dem Video erzählt haben. Wichtig sei es, mit dem Kind zu reden und ihm Sicherheit zu vermitteln, etwa so: „Das, was passiert ist, ist sehr, sehr selten.“
Auch empfiehlt die Fachärztin, das Video bei der Polizei anzuzeigen. „So können sich Eltern klar positionieren und dem Kind klarmachen: Es handelt sich hier um etwas Verbotenes“, sagt Brauer. „Nicht angucken, aber ablehnen, sofort löschen!“ Das Problem sei, dass wir uns so hilflos fühlen. „Das Tätervideo geschickt zu bekommen, hat etwas Passives, und das wiederum macht Angst.“
Werden wir künftig öfter mit solchem Material zu tun haben?
„Davon können wir ausgehen, denn der digitale Raum ist wenig reguliert“, sagt Odendahl. Dazu sei Livestreamen ein wichtiger Bestandteil der Internetkultur geworden, den man ohnehin nicht mehr verbieten könne. (mz)