Streitfall Halle-Neustadt Streitfall Halle-Neustadt: Der Schmöker zum Jubiläum

Halle (Saale)/MZ - 50 Jahre Halle-Neustadt: Das Jubiläum wird ab Mai in Halle ausgiebig gefeiert. Doch was es alles zur Geschichte und der Gegenwart der größten Stadt zu sagen gibt, die nach 1945 im Osten Deutschlands gegründet wurde, das hat Peer Pasternack jetzt in einem 600-Seiten-Schmöker zusammengefasst. „50 Jahre Streitfall Halle-Neustadt. Idee und Experiment. Lebensort und Provokation“ heißt der Titel, der jetzt im Mitteldeutschen Verlag erschienen ist.
46 Autoren und Pasternack, Leiter des Instituts für Hochschulforschung an der Uni Halle und aufgewachsen in Neustadt, haben in kurzen Texten über maximal fünf Seiten ihre Sicht der Dinge streitbar, kontrovers und lesenswert dargestellt: Geschichte und Geschichten, Architektur und Alltag, Kultur und Konflikte werden von den unterschiedlichen Autoren - vom Bürger über den Wissenschaftler bis zu Architekten und Publizisten - immer wieder anders betrachtet. Übrigens auch mit zahlreichen historischen Fotos aus der Aufbauzeit, an vielen Stellen auch im Vergleich zur heutigen Situation. Gefördert wurde das Buchprojekt von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und der Hans-Böckler-Stiftung.
Vielfalt der Stadt bunt beleuchtet
Fünf Jahre lang hat der 50-jährige Pasternack an dem Thema gearbeitet. „Ich bin dabei auch auf viele Texte und Studien zu Neustadt gestoßen und hatte das Gefühl, dass sich erstaunliche viele Menschen mit Neustadt beschäftigen.“ Und so kam die Idee zu einem Buch, das die Stadt umfassend darstellt. Allerdings gab es nicht nur Jubel über diese Idee: Einige Autoren lehnten seine Anfrage zur Mitarbeit aus unterschiedlichen Gründen ab, und zu einigen Themen konnte Pasternack erst gar keine Autoren finden - so verfasste er diese Beiträge selbst. „Aber ich bin durch Gespräche mit Autoren auch auf Themenbereiche gestoßen, auf die ich nie selbst gekommen wäre“, räumt er ein. So zum Beispiel die unzähligen Trampelpfade in Neustadt, die die Ethnologin Gesa Dralle beschreibt. Oder das Tabuthema Selbstmörder in Neustadt, das der Historiker Udo Grashoff in einem Beitrag behandelt.
Peer Pasternack u.a.:
50 Jahre Streitfall Halle-Neustadt. Idee und Experiment. Lebensort und Provokation.
Mitteldeutscher Verlag, Halle 2014,
19,95 Euro
Auch wenn die Vielfalt der Stadt, die nur mit Blocknummern und fast ohne Straßennamen auskam, bunt beleuchtet ist, so hätte Pasternack auch gerne einige weitere Bereiche beschrieben: Etwa die Kleingärten, das Wohnheimleben oder die Kriminalität. „Leider gab es dafür kein Material oder keinen Autor“, so der Herausgeber.
Was ist für Pasternack nach den ausführlichen Recherchen das Fazit im Streitfall Neustadt? „Das Positive war, dass mit dem Bau von Neustadt das Wohnungsproblem für 90 000 Menschen gelöst wurde, die auch zwei Jahrzehnte nach Kriegsende in Halle noch schlechte Wohnungsbedingungen hatten“, so der Wissenschaftler. Und auch heute noch gebe es unter der Erstbezugsgeneration eine hohe Identifikation mit Neustadt. Außergewöhnlich gut sei auch das Engagement der Wohnungsgesellschaften, die sich heute zum Beispiel mit der Einrichtung von Begegnungsstätten aktiv für ihre Mieter einsetzen.
Keine Kultur
Zu den negativen Seiten von Neustadt gehört für Pasternack die starke soziale Kontrolle während der DDR-Zeit: „In der Altstadt gab es dagegen die Möglichkeiten, Rückzugsräume zu finden, etwa illegale Kneipen und Galerien in Abrisshäusern.“ Folge der Kontrolle sei auch gewesen, dass es in Neustadt ein größeres Einverständnis als in der Altstadt zur Einhaltung der Normen gegeben habe. So habe es zum Beispiel mehr Wahlverweigerer und Ausreisewillige in der Altstadt gegeben.
Heute sei das größte Manko von Neustadt das Fehlen von Kultur: „Es gibt nur noch eine Bibliothek“, sagt Pasternack. Die Breite der Kunst in der Neubaustadt mit seinen Klubs, Zirkeln, Kunst am Bau, Plastiken ist in dem Buch in mehreren Beiträgen beschrieben.
50 Jahre nach der Grundsteinlegung der Chemiearbeiterstadt fehlt es keineswegs an Ideen und Utopien für Neustadt. Eine davon beschreibt Pasternack in seinem Buch: Um vor allem Kindern und Jugendlichen Bildungschancen zu eröffnen, könnte Neustadt als Modellprojekt die erste Stadt Sachsen-Anhalts mit kostenloser öffentlicher Internet-Vollversorgung werden. Aktiv in den Schulunterricht eingebunden, könnte dies das Bildungsniveau heben und zudem Anreiz für Studenten für einen Umzug nach Neustadt sein. Denn: „Neustadt braucht einen Maschinenraum, in dem etwas entsteht. Neustadt braucht Ideen.“
