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Rechnungen Verzehnfacht Es geht um die Existenz: So hart trifft die Energiekrise Verbraucher in Halle

Für Privathaushalte und Unternehmen in Halle geht es mit immer weiter steigenden Preisen für Strom und Gas um die Existenz. Wie die EVH, die Wohnungswirtschaft und Krankenhäuser die Lage sehen und was sie fordern.

Von Dirk Skrzypczak Aktualisiert: 23.09.2022, 06:32
Und es wird dunkel. Denkmale wie die Oper schalten bereits die Beleuchtung aus, um Strom zu sparen. Gehen in Halle im Winter flächendeckend die Lichter aus?
Und es wird dunkel. Denkmale wie die Oper schalten bereits die Beleuchtung aus, um Strom zu sparen. Gehen in Halle im Winter flächendeckend die Lichter aus? Foto: Clara Geilen

Halle (Saale)/MZ - In Halle richten sich der regionale Energieversorger EVH, Stadt, Wohnungsunternehmen, Firmen und Krankenhäuser angesichts weiter explodierender Energiepreise auf einen dramatischen Winter ein.

Laut EVH muss ein Drei-Personen-Haushalt in der Stadt bereits mit einer durchschnittlichen Mehrbelastung von 1.500 Euro für Erdgas im Jahr rechnen, beim Strom sind es rund 1.600 Euro. In einem gemeinsamen Positionspapier nehmen Partner der Initiative die Politik in die Pflicht.

Die Daten werden von der Good Conversations gGmbH erhoben und verarbeitet.

„Es ist wie bei einem Tsunami. Das Wasser ist bereits weg und jetzt kommt zeitversetzt die erste Preiswelle. Und es wird weitere Wellen geben“, sagt Olaf Schneider. Für die MZ hat Dirk Skrzypczak mit dem EVH-Chef sowie Guido Schwarzendahl, Vorstand des Bauvereins Halle-Leuna, und Thomas Völker, Kaufmännischer Vorstand des Diakoniewerks Martha-Maria, über die Lage gesprochen.

Herr Schneider, die EVH hat Preise bereits angepasst. Kommen weitere Erhöhungen?

Olaf Schneider: Ja, wir haben keine Alternative. Die Marktpreise für Strom und Gas am Großhandelsmarkt haben sich verzehnfacht und betragen für Gas bereits ca. 20 Cent pro Kilowattstunde.

Olaf Schneider ist Chef der Energieversorgung Halle.
Olaf Schneider ist Chef der Energieversorgung Halle.
Foto: Skrzypczak

Das ist das größere Problem, nicht nur die viel diskutierten Gasumlagen. Unsere Strom-, Gas- und Fernwärmekunden profitieren von unserer langfristigen Beschaffungsstrategie, denn wir haben viele Mengen zu günstigen Preisen eingekauft. Nach und nach laufen diese günstigen Mengen aus und wir müssen zu den teuren, aktuellen Preise zukaufen.

Einige Firmen haben zum 1. Januar 2023 noch gar keine Strom- und Gasverträge – sie wird die volle Wucht treffen. Wir führen jeden Tag mit Betrieben Gespräche, die bislang etwa 50.000 Euro pro Monat für Energie gezahlt haben und jetzt 500.000 Euro und mehr monatlich aufbringen müssen. Das gefährdet Existenzen.

Bis Ende des Jahres bleiben die Kosten für die Fernwärme stabil. Was kommt danach?

Die Fernwärme produzieren wir in Gaskraftwerken. Die Preisentwicklungen und eventuelle Umlagen wirken auch dort. Wir werden auch diese Preise anpassen müssen. Voraussichtlich wird es wohl eine Erhöhung um rund 40 Prozent ohne Umlagen ab 1. Januar geben. Wir wissen, das ist viel Geld. In anderen Städten werden die Preise aber schon um bis zu 300 Prozent angehoben.

Herr Schwarzendahl, was heißt das für Wohnungsunternehmen und Mieter?

Guido Schwarzendahl: Es trifft jeden von uns. Und nach den Stadtwerken sind wir die Ersten, die in die Pflicht genommen werden. Die Zahlen der EVH sind sehr aufschlussreich.

Guido Schwarzendahl ist Vorstand des Bauvereins Halle-Leuna.
Guido Schwarzendahl ist Vorstand des Bauvereins Halle-Leuna.
Foto: Dirk Skrzypczak

Durch die Energieinitiative wissen wir, was auf uns zurollt. Wir haben in Halle 6.500 Wohnungen und die Vorauszahlungen für unsere Mieter wohlweislich erhöht. Abseits der Fernwärme sprechen wir aber von Kostensteigerungen von 100 Prozent plus x. Für sozial orientierte Wohnungsunternehmen, die viele Mieter mit geringen Einkommen haben, geht es ans Eingemachte.

Weil sich Mieter die hohen Preise nicht leisten können und Wohnungsunternehmen auf den Kosten sitzenbleiben?

Als Vermieter gehen wir in Vorkasse. Und wenn die Mieter dann im nächsten Jahr ihre Nachzahlungen bekommen und gleichzeitig dann höhere Abschläge zahlen müssen, haben wir einen riesigen Nachlaufeffekt.

Es gibt viele Menschen, die das Geld nicht haben. Für Wohnungsunternehmen ergibt sich ein Millionenbetrag, der gefährdet ist. Das Geld, das für Investitionen geplant war, werden wir für die Vorauszahlungen der Betriebskosten verwenden.

Herr Völker, Kliniken wie das Martha Maria haben den Energieverbrauch einer Kleinstadt. Ist der Betrieb gefährdet?

Thomas Völker: Wir profitieren von der Energieinitiative, andere trifft es viel schlimmer. Und doch rechnen wir nur bei Gas mit Kostensteigerungen von 200 Prozent, das sind für 2023 1,9 Millionen Euro nur am Standort Halle.

Thomas Völker ist Kaufmännischer Vorstand des Diakoniewerks Martha-Maria.
Thomas Völker ist Kaufmännischer Vorstand des Diakoniewerks Martha-Maria.
Foto: Dirk Skrzypczak

Zahlreiche Krankenhäuser befinden sich bereits in prekären Situationen, deshalb steht die Ampel auch auf Rot. Unser Problem: Ein Möbelbauer beispielsweise könnte gestiegene Kosten für den Materialeinkauf sofort an seine Kunden weiterreichen. Wir können das nicht. Und deshalb muss von der Politik jetzt eine Gesamtlösung kommen. Sonst steht ein Großteil der Kliniken in Deutschland vor der Insolvenz.

Herr Schneider, die Energieinitiative fordert politische Bemühungen, um die Versorgung zu garantieren. Ohne russisches Gas geht das kurzfristig nicht. Muss Nord Stream II geöffnet werden?

Es ist die Aufgabe der Politik, nach Lösungen zu suchen. Wir berichten über die Fakten. Wir tagen seit März regelmäßig in der Energieinitiative. Und alle Prognosen, die wir hatten, sind eingetroffen. Wir tragen direkt und über verschiedene Branchenverbände unsere Sorgen an die Politik heran. Doch wir wurden bislang nicht immer gehört. Das Positionspapier ist ein klares Signal, dass etwas passieren muss.

Herr Völker, was erwarten Sie von der Politik?

Ich denke, dass wir die alten Preise nicht mehr zurückbekommen werden. Nord Stream II zu öffnen, ist eine platte Forderung. Aber warum setzen wir nicht für eine längere Übergangszeit weiter auf die Atomkraft, um Strom zu produzieren?

Außerdem müsste es aus meiner Sicht bis zu einem gewissen Verbrauch einen Energiepreisdeckel für Haushalte und Firmen geben, bei dem die Preise im bezahlbaren Rahmen bleiben. Alles, was darüber an Verbrauch hinausgeht, müsste teurer werden. Das wäre ein Sparanreiz.

Der Bund zahlt im September eine Energiepauschale und will die Zahl der Anspruchsberechtigten auf Wohngeld verdreifachen. Bringt das etwas Herr Schwarzendahl?

Die Pauschale von 300 Euro ist ein Tropfen auf den heißen Stein. Wenigstens wird jetzt auch an Rentner und Studenten gedacht, wobei sich mir nicht erschließt, warum Studenten nur 200 Euro bekommen sollen.

Menschen mit niedrigen Einkommen sind massiv unter Druck, weil alle Lebenshaltungskosten steigen. Prinzipiell ist es richtig, dass mehr Menschen einen Anspruch auf Wohngeld bekommen sollen, weil man zielgerichtet die Schwächsten unterstützt. Allerdings weiß keiner, wie das umgesetzt werden soll. Wohngeld zu beantragen, ist ungeheuer schwierig. Und es gibt die Infrastruktur gar nicht, so viele Anträge zu bearbeiten.

Die Politik sagt, dass alles sehr schnell gehen soll, möglichst schon zum 1. Januar. Das wäre wichtig, weil dann die ersten hohen Vorauszahlungen drohen.

Herr Schneider, kann es sein, dass wir im Winter frieren, weil gar kein Gas mehr da ist?

Das denke ich für Halle nicht. Kommt es aber zu einer Mangellage, ruft die Bundesnetzagentur die Notfallstufe aus. Dann werden zunächst nicht geschützte Verbraucher vom Netz genommen. Auf 90 Prozent unserer Kunden in Halle trifft das nicht zu. Gas wird weiter fließen, die Frage wird sein, mit welchem Druck.

Wir haben Gasdruckerhöhungsstationen für unsere Energieparks. Wir werden jedenfalls alles in unserer Macht Stehende tun, um Haushalte und Firmen in Halle zu versorgen. Unsere Möglichkeiten sind allerdings begrenzt. Jetzt ist die Politik gefordert!

Das steht im Positionspapier der Energieinitiative Halle

Die Energieinitiative Halle ist eine Allianz aus Wohnungs- und Wirtschaftsunternehmen, Krankenhäusern, Stadt und Stadtwerken sowie Forschungseinrichtungen. Vor sechs Jahren wurde die Zusammenarbeit beschlossen. Das große Ziel: die Energiewende einzuleiten. Jetzt arbeiten die 16 Partner daran, die Energiekrise zu meistern.

Mit einem gemeinsamen Positionspapier nimmt die Initiative die Bundespolitik in die Pflicht. „Wir fordern kurzfristig spürbare Entlastungen für Bürger und Unternehmen sowie verlässliche Lösungen für eine stabile Versorgungssicherheit zu bezahlbaren Preisen“, heißt es. Parteiübergreifend müssten alle Bemühungen darauf gerichtet werden, „dass die Versorgungssicherheit überall im Bundesgebiet aufrechterhalten bleibt“. Kurz- und mittelfristig könnten russische Gaslieferungen nicht ersetzt werden.

Nach Einschätzung der Initiative können für die gesamte Volkswirtschaft basierend auf den derzeitigen Energiepreisen kurzfristig Mehrkosten von 200 sowie langfristig von 400 Milliarden Euro entstehen – davon alleine 120 Milliarden für private Haushalte. Das jüngste Entlastungspaket in Höhe von 65 Millionen Euro reiche bei weitem nicht aus.

Die finanzielle Belastung könnten viele Bürger und Unternehmen nicht tragen. Als Energieinitiative habe man keine weiteren Hebel, um die Energiepreisexplosion zusätzlich zu kompensieren: „Wir brauchen eine weitere politische Fokussierung auf stark betroffene Empfängerkreise – bei Privathaushalten wie bei Unternehmen.“