Schmerzvoller Weg zur Linderung Schmerzvoller Weg zur Linderung: Multiple Sklerose-Behandlung am Martha Maria Krankenhaus in Halle-Dölau

Halle (Saale) - Als Kind verspürt Simone Schlesier einen unbändigen Bewegungsdrang. Kaum eine Sportart, die sie nicht ausprobiert: Kugelstoßen, Langstreckenlauf, rhythmische Sportgymnastik, Handball, Basketball, ja sogar Fußball. Das Mädchen nimmt an Spartakiaden teil. Sie ist Anwärterin auf einen Platz an der Kinder- und Jugendsportschule. Doch irgendwie setzt der Körper ihr Grenzen. Die heute 59-Jährige glaubt, dass das die allerersten Anzeichen der Krankheit waren, die ihr ganzes Leben bestimmt: Multiple Sklerose (MS).
Später, da arbeitet die Hallenserin bereits als Kindergärtnerin, werden die Zeichen deutlicher. Simone Schlesier hat Gefühlsstörungen. Zudem macht ihr Magen Probleme. Bald stellen sich erste Lähmungserscheinungen ein. „Ich war nicht mehr belastbar“, sagt sie. „Habe aber gedacht: Das wird schon wieder.“ Und tatsächlich lassen die Beschwerden immer mal nach. Jedoch nie für lange. Ein Fernsehbericht über Multiple Sklerose, in dem genau diese Symptome und genau dieser Verlauf geschildert werden, weckt in ihr schließlich den Verdacht, dass das auch „ihre Krankheit“ sein könnte. Dieser bestätigt sich nach einer vom Neurologen veranlassten Magnetresonanztomographie (MRT). Für die entsprechende Untersuchung muss die junge Frau 1992 noch von Halle nach Dresden reisen.
Einerseits ist Simone Schlesier froh, dass es nach Jahren der Ungewissheit nun endlich eine Diagnose gibt. Andererseits geht sie „durch die Hölle“. Sie weiß, dass sich ihr Zustand verschlechtern wird, aber nicht, wie es weitergehen soll.
Kinderklinik erweitert Angebot
Nur kurze Zeit später, nämlich 1994, wird ein junger Mediziner aus Nürnberg Chefarzt der neugegründeten Klinik für Neurologie in der halleschen Fährstraße am Saaleufer. Das dortige Kinderkrankenhaus - in der Trägerschaft des Diakoniewerkes Martha Maria Nürnberg - ist kaum noch ausgelastet und erweitert deshalb sein Spektrum. Dr. Frank Hoffmann hatte die entsprechende Stellenausschreibung im Ärzteblatt gelesen und sich kurzerhand beworben.
„Mit 33 Jahren war ich im Grunde genommen viel zu jung für eine Chefarztstelle“, sagt er rückblickend. Aber er bekommt sie. Denn obwohl damals alles andere als Ärztemangel herrscht, scheuen sich viele Mediziner, nach Halle zu gehen. „Hinzu kommt, dass sich mancher wohl nicht so ganz sicher war, ob es mit dem kleinen Träger Martha Maria funktionieren würde“, erzählt der Neurologe. Es funktioniert. Sogar sehr gut. Seit 25 Jahren lebt Frank Hoffmann nun in Halle und arbeitet am Krankenhaus in Halle-Dölau, dessen alleiniger Träger nach der Fusion mit dem Haus in Fährstraße seit 2007 ebenfalls das Diakoniewerk Martha Maria Nürnberg ist.
1994 geht der Arzt mit einem kleinen Team und viel Enthusiasmus an den Aufbau seiner Station. Die Voraussetzungen sind gut. So lobt er die „hervorragende Ausbildung von Schwestern und Physiotherapeuten“. „Das war viel besser als ich es aus dem Westen kannte.“ In das Lob bezieht der Chefarzt auch die Ärzte ein. Wenngleich er damals feststellt, dass „manche Kompetenzen“ nicht so ausgeprägt sind. Das betrifft aber nur die Apparatemedizin, sprich: die Handhabung von MRT, CT und anderer Geräte. Der Grund - davon gab es in der DDR nur sehr wenige. Was sich aber bald ändert.
Zu Beginn besteht die Station aus 25 Betten. Nach relativ kurzer Zeit sind es bereits 36. Wenige Jahre später, als es bereits zwei neurologische Stationen gibt, dann 77. So wie heute. Der Bedarf an neurologischer Behandlung, besser gesagt der Nachholbedarf, ist groß. „Es gab anfangs viele Patienten mit Krankheiten, die ein westdeutscher Arzt nur noch aus Lehrbüchern kannte“. Zum Beispiel den Vitamin-D-Mangel. Auch diese Unterschiede seien schnell verschwunden.
In der halleschen Fährstraße kreuzen sich schon bald die Wege von Simone Schlesier und Frank Hoffmann. Die Hallenserin wird seine Patientin - und bleibt ihrem Arzt auch treu als die Neurologie 2002 nach Halle-Dölau umzieht.
Multiple Sklerose ist eine sogenannte Autoimmunerkrankung. „Das heißt, die eigenen Immunzellen verhalten sich aggressiv gegen die Nervenzellen. Es kommt zu Entzündungsreaktionen und damit zu neurologischen Funktionsstörungen“, erklärt Hoffmann. Das könne vielfältige Auswirkungen haben. Etwa das Sehen beeinträchtigen, Lähmungen, Gefühls-, Gleichgewichts-, Gang oder auch Sprachstörungen verursachen. MS wird die Krankheit mit den 1000 Gesichtern genannt.
Und sie verläuft in Schüben. Bei Simone Schlesier treten die in kurzen Abständen auf. Ihr Körper kommt nicht zur Ruhe. Lähmungen in Armen und Beinen, eine sogenannte Tetraspastik, quälen sie. Schon seit 1995 kann sie nur noch kurze Strecken zu Fuß zurücklegen, sitzt meist im Rollstuhl. Seit dieser Zeit erhält sie auch Erwerbsunfähigkeitsrente.
„Kein einziges Medikament“
Frank Hoffmann ist bemüht, gemeinsam mit seiner Patientin eine wirksame Therapie zu finden. Cortison, Tabletten, Spritzen. Simone Schlesier zählt vieles auf, was im Laufe der Zeit ausprobiert wurde. Manches hat nur eine gewisse Zeit gewirkt, manches hatte unerträgliche Nebenwirkungen. Um wieder anderes muss der Arzt bei der Krankenkasse kämpfen. „Er hat es immer versucht“, betont die Patientin.
Seit 2011 lebt Simone Schlesier nun mit einer Medikamenten-Pumpe. Diese wurde ihr unter der Bauchhaut eingepflanzt. Der Körper merkt selbst, wenn er etwas von dem Medikament gegen die Spasmen braucht und holt es sich. „Ich selbst kann das gar nicht beeinflussen“, sagt sie. Was die Multiple Sklerose betreffe, sei seitdem ein gewisser Stillstand eingetreten.
Für Frank Hoffmann ist der „Fall“ von Simone Schlesier ein gutes Beispiel, wie sich sein Fachgebiet in den vergangenen 25 Jahren entwickelt hat. „Damals gab es für die Multiple Sklerose kein einziges zugelassenes Medikament“, erzählt der Chefarzt. „Viele Kollegen kennen noch die Zeit, in der den Patienten die Diagnose verschwiegen wurde, um sie nicht zu beunruhigen.“ Die Situation habe sich erst 1995 mit Betaferon, einem Immunmedikament zur Behandlung dieser Krankheit, geändert. „Inzwischen gibt es davon 17. Einige sind bereits wieder vom Markt verschwunden. Sie wurden von anderen, die um Größenordnungen wirksamer sind als die ersten, verdrängt“, fügt er hinzu.
In Deutschland leiden derzeit weit mehr als 200.000 Menschen unter Multipler Sklerose. Die Krankheit, die sich meist im Alter zwischen 20 und 40 Jahren bemerkbar macht, wird immer häufiger diagnostiziert.
„Sie ist die häufigste Ursache für eine Behinderung im jungen Erwachsenenalter“, sagt Dr. Frank Hoffmann, Chefarzt der Neurologie am Krankenhaus Martha Maria in Halle-Dölau. Woran das liegt sei unklar. Verbesserte diagnostische Möglichkeiten könnten nicht der alleinige Grund dafür sein.
Für die Neurologie am Krankenhaus Martha Maria ist die Behandlung der Multiplen Sklerose einer der Schwerpunkte. Seit vielen Jahren besteht hier ein von der Deutschen Multisklerose Gesellschaft (DMSG) zertifiziertes MS-Schwerpunktzentrum. Und zwar das einzige in Sachsen-Anhalt. Es findet sich im Fokus-Ranking der Kliniken regelmäßig auf vorderen Plätzen. Chefarzt Dr. Frank Hoffmann gehört zu den Fokus-Top-Medizinern.
MS ist für dieser Entwicklung nur ein Beispiel. Ein anderes sei die Schlaganfall-Behandlung. „1994 bestand die darin, dem Patienten Bettruhe zu verordnen und ihn ansonsten möglichst in Ruhe zu lassen. Heute lösen wir die Gefäßverschlüsse auf oder holen die Schlaganfall-Thromben mit Kathetern heraus“, unterstreicht Hoffmann. „Es gibt in der Neurologie eine Reihe von Therapiemöglichkeiten, die vor 25 Jahren noch nicht vorstellbar waren.“ Und zwar in Ost und West.
Frank Hoffmann betont, dass sich sein Fachgebiet in diesem Zeitraum total gewandelt habe, dass es zunehmend ein sogenanntes Behandlungsfach geworden sei. „Früher hieß es, dass der Neurologe zwar herausfindet, wo eine Störung liegt, aber dagegen tun kann er nichts. Das hat sich grandios geändert“, unterstreicht er.
Und davon profitieren auch Multiple-Sklerose-Patienten. Zwar sei die Krankheit nicht heilbar. Es gebe keinen Rückwärtsgang - aber gute Bremsen. Je früher die gezogen werden, desto besser. „Wir können erreichen, dass MS-Patienten alles machen können was sie möchten - eine Familie gründen, Kinder kriegen, Reisen ... Das ist das eigentliche Ziel der Behandlung, was immer häufiger auch zu erreichen ist“, betont Hoffmann.
Kopf nicht in den Sand stecken
Simone Schlesier bringen die neuen Entwicklungen zumindest Erleichterung. Sie lebt heute als sogenannte Dachgeschossmieterin im Paul-Riebeck-Stift trotz ihrer Behinderung ein einigermaßen selbstständiges Leben. Bei Bedarf greift sie auf Dienstleistungen des Hauses zurück. Und immer wenn ihr danach ist, findet sie Gesellschaft. Sei es im Haus oder in der Selbsthilfegruppe, die ihr eine wichtige Stütze ist. Ihr Motto: Den Kopf bloß nicht in den Sand stecken. Auch wenn es so Tage gebe... „Spastik ist Spastik und das ist schon nicht einfach“, sagt sie „Aber man muss die Krankheit in sein Leben reinlassen - ob es einem passt oder nicht.“ Ansonsten werde alles nur noch schlimmer. (mz)