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Schlüsseldienst Halle Schlüsseldienst Halle: Hinter jeder Tür ein Schicksal

Von Oliver Müller-Lorey 15.11.2013, 20:26
Schlüsseldienst Heiko Scharfe versucht es immer erst mit dem Dietrich, bevor er das Schloss zerstört.
Schlüsseldienst Heiko Scharfe versucht es immer erst mit dem Dietrich, bevor er das Schloss zerstört. Günter Bauer Lizenz

Halle/MZ - Die Tür öffnet sich und Heiko Scharfe blickt auf ein fremdes Leben, in dem fast alles schiefgegangen sein muss. Scharfe arbeitet bei einem Schlüsseldienst, gerade hat er das Schloss einer Wohnung in Neustadt aufgebohrt. Es riecht muffig, auf dem Kacheltisch im einzigen Raum stehen leere Bierflaschen, der Aschenbecher quillt über, und auf dem Boden liegen getragene Unterhosen auf einem Haufen.

Heiko Scharfe hat sich vor zehn Jahren mit einem Schlüsseldienst selbstständig gemacht; seitdem hat er Hunderte solcher Wohnungen gesehen. Hauptsächlich öffnet er Türen, wenn sich jemand ausgesperrt hat, aber auch Zwangsöffnungen gehören zu seinem Geschäft. So wie heute.

Eigentlich nichts Besonderes mehr

Gerichtsvollzieherin Yvonne Blume-Pult schiebt sich an Scharfe vorbei in die geöffnete Wohnung. „Nichts zu holen,“ stellt sie fest. „Heiko, machst du dann das neue Schloss rein, bitte?“ Für ihn sei das Eindringen in fremde Wohnungen und die Konfrontation mit den oft schlimmen Schicksalen nichts Besonderes mehr, sagt Scharfe. „Ich habe schon so viel gesehen, das können Sie sich überhaupt nicht vorstellen.“ Mit Maden übersäte Leichen, Menschen, die kurz bevor der Gerichtsvollzieher kam, Selbstmord begangen haben oder Wohnungen, in denen sich bis unter die Decke der Müll stapelt. All das habe er schon erlebt, obwohl solche Fälle die Ausnahme in seinem Beruf seien. „Da sind solche Wohnungen wie die hier eigentlich schon ganz normal.“

Das Schloss ist mittlerweile getauscht. Der neue Schlüssel geht an den Vermieter, und Scharfe steht schon wieder im nächsten Hausflur eines Neustädter Plattenbaus. Während er dem Schloss mit einer Bohrmaschine zu Leibe rückt, gehen drei Nachbarn vorbei. Niemand scheint sich sonderlich für Scharfe zu interessieren, obwohl der Bohrer ohrenbetäubend laut ist und Metallspäne durch die Luft fliegen. „Die Tür hier wurde schon häufiger geöffnet,“ sagt Scharfe und deutet auf das abgesplitterte Holz und das verbogene Metall am Türrahmen.

Solche Trostlosigkeit zieht den gelernten Schlosser nicht mehr runter. „Das darf man nicht an sich ranlassen,“ sagt er und erzählt von lustigeren Fällen, die er erlebt hat: „Da war ein Handwerker, der nach Feierabend duschen wollte. Im Bad hat er gemerkt, dass er seine Schuhe im Treppenhaus stehengelassen hatte. Als er die dann holen wollte, fiel die Tür hinter ihm zu und er stand vollkommen nackt im Treppenhaus,“ erzählt er und schmunzelt. „Und ich hatte mal einen Schlafwandler, der nachts die Badezimmer- mit der Wohnungstür verwechselt hat.“

Nur ein Babyfoto an der Wand

Der Grund, aus dem Scharfe die Tür gerade öffnet, ist weniger lustig. Der Mieter hat seine letzten Stromrechnungen nicht bezahlt. Nun steht ein Mitarbeiter der Stadtwerke im Wohnungsflur und baut den Stromzähler aus. Die Wohnung, komplett mit Rasenimitat-Teppich ausgelegt, ist bis auf wenige Sachen vollkommen leer. Nur an der Wand hängt ein Babyfoto, vielleicht vom Kind des Mieters. Auf der Anrichte in der Kochnische steht ein Teller mit Spaghetti-Resten. Auf der Fensterbank entdeckt Gerichtsvollzieherin Blume-Pult einen geöffneten Brief mit ihrer Unterschrift. „Der wusste, dass wir heute kommen und hat seine Wohnung vorher leer geräumt,“ sagt sie und macht sich wieder auf den Weg nach draußen.

Für heute sind sie und Scharfe fertig in Halle-Neustadt. Im Büro des Schlüsseldienstes wird im Laufe des Tages aber sicher noch der eine oder andere Ausgesperrte anrufen und um Hilfe bitten. „Wenn jemand anruft, weiß ich nie, was das für ein Typ ist. Ich hab schon Anwälten, Professoren und Ärzten in Anzug ihre Türen geöffnet und stand bis zum Bauch in Pizzakartons, verschimmelten Joghurtbechern und Essensresten. Man weiß nie, was einen hinter der Tür erwartet.“