Rockhoffnung Rockhoffnung: Einmal Hölle und nie zurück
Halle (Saale)/MZ. - Manchmal, auf den langen Fahrten im Bandbus irgendwohin, kommt Timm Völker so richtig in den Sinn, wie verrückt das eigentlich alles ist. "Ich denke mir ein Lied aus", sagt er, "und auf einmal fahren drei Leute quer durch Deutschland, weil am Ende der Straße andere Leute sind, die es hören wollen."
Völker schmunzelt. Ein bisschen, als ob er mit Gedanken Dinge bewegen kann. Geist schiebt Körper, Idee wird Kraft. Und wie schnell das geht! Vor ein paar Wochen noch war Völkers Band mit dem Rätselnamen 206 nur ein paar Fans in Halle und Leipzig ein Begriff. Schon vor der Veröffentlichung des ersten Albums "Republik der Heiserkeit" aber, das heute beim renommierten Zickzack-Label des Szene-Paten Alfred Hilsberg erscheint, grummelte auch der Rest der Rockwelt immer lauter. Stars wie The Kills nahmen sie mit auf Tour, Kritiker, für die Mitteldeutschland ein blinder Fleck auf der Musiklandkarte ist, feiern die Hallenser als "Retter des Punk". Selbst die Pop-Bibel "Rolling Stone" listet das Trio unter den Hoffnungsträgern des Planeten Pop: "Die Zukunft der Musik beginnt hier", lautet die Schlagzeile.
Aber Timm Völker, 23 Jahre alt, halblanges Haar und Schmoll-Lippen, hat das ja immer gewusst. Der Sänger und Gitarrist, der in der Nähe des halleschen Zoo aufwuchs, macht Musik, seit er 13 ist. "Ungefähr ein Jahr später", sagt er, habe er gewusst, dass es "das ist, was ich im Leben machen muss". Gitarrespielen brachte er sich selbst bei, erst mit ein paar Klassikern, dann mit eigenen Stücken. Die erste Band gründet er mit Freunden, keiner beherrscht ein Instrument und alle anderen geben irgendwann auf. Nur Timm Völker macht weiter, nimmt mal vier Stunden Gitarrenunterricht, lernt aber sonst einfach durch spielen, spielen und noch mehr spielen. "Es hatte sich festgesetzt in meinem Kopf, dass ich diesen Weg gehen will."
Ganz egal, wie schwer er wird. Mit 206 hat der Hallenser einen Namen für seine Sehnsucht gefunden. Oder der Name ihn, könnte sein. "Wir probten damals bei einem Eisenwarenhändler", erinnert er sich, "und da stand so eine alte Industriewaage". 206 Kilo zeigt die als Gesamtgewicht aller Bandmitglieder. "Mir hat gefallen, dass das für nichts anderes steht", sagt Völker, "das gibt jedem Gelegenheit, an uns zu denken, wenn er an der Kasse 206 Euro bezahlen muss."
Erinnerungswürdig ist die Musik des Trios allemal. Gemeinsam mit Schlagzeuger Florian Funke und dem Bassisten Leif Ziemann, die er vor anderthalb Jahren traf, besingt Timm Völker in rauem Punkrock eine düstere Welt. Michael Jackson, der im gerade vierjährigen Timm einst den Wunsch weckte, Musiker zu sein, ist weit, weit weg. Dafür grüßen aus der Kulisse Klassiker wie Joy Division, und The Clash. Völker erzählt von "Rheumakissen aus 20 schwarzen Katzen" und von blutigen Küssen im ersten Schnee, der Sound, für den Tocotronic-Produzent Tobias Levin in Hamburg sorgte, klingt nach White Stripes. Songs wie aus dem Säurebad. Wenn Tokio Hotel, die eine andere Band aus Sachsen-Anhalt, die es in den letzten 20 Jahren bis nach oben geschafft hat, eine Blümchenwiese sind, dann ist 206 ein brennendes Brennnesselfeld.
Aus jedem Lied dröhnt der Weg, den Timm Völker bis hierher gegangen ist. Während sich seine Generation fortlaufend bescheinigen lassen muss, das Risiko zu scheuen und den Unwägbarkeiten der Freiheit allemal ein Leben als Beamter vorzuziehen, hat der Sohn einer Krankenhausangestellten und eines Servicetechnikers sich kompromisslos für seinen Lebenstraum entschieden. "Ich wusste, wenn ich das durchziehen will, darf es keine Leine und kein Netz geben", sagt er. Statt den berühmten "anständigen Beruf" zu lernen, hat Timm Völker Gitarre geübt, Texte geschrieben, Songs ausgedacht, live gespielt. "Es ist auch der existentielle Druck, der mich treibt und motiviert", gesteht er. Druck, der nicht nur theoretisch ist. Wie der ebenfalls aus Halle stammende Matthias Baader-Holst, der vor zwei Jahrzehnten ein ähnliches Künstlerleben wählte, weiß Timm Völker, was der Begriff brotlose Kunst meint. Natürlich hätte er sich mit seinem Postergesicht auch um den immer wieder vakanten Posten als Deutschlands neuer "Superstar" bewerben können. Doch diese Art flüchtigen Fernsehruhm hatte er nie im Sinn. Völker geht es um größere Dinge, schwere Inhalte: Selbstbestimmung, Auseinandersetzung mit der Umwelt. "Was bleibt mir anderes übrig, als mit meiner Armut anzugeben", singt er in "Goldjunge" zu Akkorden, die aufs Gerippe abgemagert klingen. Nein, gezweifelt habe er nie. "Ich bin nicht der Typ, der aufgibt", sagt Timm Völker, "zweifeln stand also nicht zur Debatte."
Der Junge mit der Gänsehautstimme, der auf der Bühne zuweilen tobt wie ein Derwisch, war immer "sicher, dass es funktioniert, wenn man macht, wovon man überzeugt ist". So hat er auch die Theater überzeugt, an denen er gearbeitet hat. "Wenn du zeigst, dass du gut bist", sagt er, "fragt dich niemand, ob du auf dem Konservatorium warst". Davon berichtet auch der reduzierte Rock, den 206 spielen. Gruppen wie Bauhaus, der Schriftsteller Rolf Dieter Brinkmann und US-Rockstar Bruce Springsteen hätten ihn für die "Republik der Heiserkeit" inspiriert, beschreibt Timm Völker. "Wobei ich nur Texte und Musikideen liefere, richtige Stücke machen wir alle zusammen daraus." Dass die anderen beiden nicht sein Begleitorchester sind, sondern sie alle drei zusammen erst die Band, versteht sich von selbst. "Ohne Leif und Florian wäre es nicht dasselbe."
Wäre es wohl auch nicht so einzigartig. 206-Lieder wie "Hallo Hölle" und "Kältester Tag der Welt" malen Bilder der Gegend, in der sie entstanden sind. Schroff kratzt die Gitarre, das Schlagzeug kracht, Timm Völker singt von Städten, die von innen verschwinden, von Menschen, die fort wollen, von Straßen, über die Männer Kiepen voller Kohle schleppen. "Wäre diese Band ein Gewehr, sie hätte einen abgesägten Lauf", staunt ein Kritiker über Poesie, die in jedem Moment aufs Ganze geht, die auf der Rasierklinge tanzt und "Unmut äußern will", wie Timm Völker selbst sagt. "Ich beobachte viel und ich beobachte auch mich selbst", beschreibt er, "ich sehe, was passiert, und das schreie ich heraus." Laut, denn es ist Rock. Deutlich, denn so reden die Leute hier nun mal. Am Ende aber, glaubt Timm Völker, müsse man nur genau hinhören. "Dann merkt man, dass alle unsere Songs eigentlich Liebeslieder sind."