1. MZ.de
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Halle
  6. >
  7. Peißen: Peißen: Ackern bis zur Bescherung

Peißen Peißen: Ackern bis zur Bescherung

Von Ralf Böhme 23.12.2011, 19:51

PEISSEN/MZ. - 200 Millionen Euro Schaden insgesamt im Land. Dach weg, Obergeschoss zerstört, Nässe bis ins Fundament, so grausam hat der Hagelsturm am 11. September bei Familie Gläser in Peißen (Salzlandkreis) gewütet. Seltsam, ausgerechnet die zerbrechlichen Glitzerkugeln sind heil geblieben. Trotzdem reicht der Schmuck nur für eine Seite des Christbaumes. "Eigentlich sollte überall etwas hängen, aber mehr haben wir nicht", sagt Hausfrau Annika Gläser. So richtig in Weihnachtsstimmung sei sie auch noch nicht - wenige Stunden vor der Bescherung.

Ackern ist angesagt. Hammerschläge treiben Nägel ins Holz. Dann jault eine Bohrmaschine. Gleichzeitig klappert Geschirr in der Spüle. Freilich, es duftet schon nach Kaffee und Kuchen. Dennoch, die Eltern und ihre fünf Kinder - das jüngste ist vier, das älteste zehn Jahre - finden nicht die Zeit, um zur Ruhe zu kommen. Vier Monate nach dem Unglück ist die Familie noch ärmer dran als zuvor.

Auf der Suche nach einem Job

Ehemann Peter Gläser ist Arbeiter, würde gerne als Reinigungskraft sein Geld verdienen. Seine Frau träumt von einem Job als Küchenhilfe. Beide erhielten bislang nur Absagen auf ihre Bewerbungen. Die Folge: Vieles ist unbezahlbar. Es liegen zwar neue Ziegel auf dem Dach - auf der Vorderseite. Insgesamt geht es nur langsam voran, Schritt für Schritt.

Es gibt keine Versicherung, die für Schäden an dem mehr als 100 Jahre alten Gebäude oder am Hausrat aufkommt. Gläsers besitzen gar keine Police. Der Hausherr: "Erst wollten wir sparen, dann ist es auch in Vergessenheit geraten." Die Folgen der Unterlassung sind freilich bitter und allenthalben sichtbar. Auf der Hofseite klaffen große Löcher im Dach. Längst nicht alle Fugen sind abgedichtet. Peter Gläser, der bisher fast alle Arbeiten selbst erledigt, klagt: "Wir brauchen dringend noch 50 Quadratmeter Dachplane." Das Material sei aber für ihn momentan einfach nicht erschwinglich. So dringen Regen und Schnee weiter bis in das kleine Badezimmer. Die im Anbau gelagerten Kohle- und Holzvorräte werden immer wieder feucht.

Manchmal ist das Paar nahe an der Verzweiflung. "Dann aber geben wir uns einen Ruck, wollen nicht aufgeben", so der Mann, der seine Bau-Klamotten kaum noch ablegt. Mörtelflecken auf der Latzhose, der grobe Strickpulli ist eingestaubt. Auch Heiligabend werden bis zur Bescherung die Risse in den Wänden abgedichtet.

Halt geben Gläsers ihre Kinder. Nicht alle Wünsche werden in Erfüllung gehen - das wissen sie. Selbst der fünfjährige Steven Nils, sonst immer aufgeregt, gibt sich verständig und ruhig. Ebenso wie Leon Niklas, Lara und die beiden Pascals, die verschiedene Väter haben. Dass ihnen Knecht Ruprecht etwas Süßes, ein Buch oder eine CD auf den kleinen Gabentisch legt, hoffen sie natürlich schon.

Es soll ein schönes Fest werden. Das ist der sehnlichste Wunsch der Eltern. Dazu gehören ein gutes Mittagessen, lustige Spiele danach und besinnliche Lieder am Abend. Diese Gemeinsamkeit sei doch das Wichtigste, sagt Peter Gläser - "gerade weil wir noch so viele ungelöste Probleme haben".

Nicht nur die alltäglichen Anstrengungen daheim sind damit gemeint. Wer nicht vom Hagelsturm betroffen ist, kann es sich vielleicht schwer vorstellen: So ein Ereignis belastet Kinder noch Monate später. "Wenn starker Wind aufkommt, erfasst sie Unruhe", so die Beobachtung der Eltern.

Einig sind sich die Gläsers in dieser Sache: Der selbst gedrehte Film vom Tag des Hagelsturms bleibt vorerst unter Verschluss. "Wir würden alle weinen müssen", befürchtet Peter Gläser. Erinnerungen an den Tag würden sofort wach. Vormittags saß man noch in fröhlicher Runde zusammen. Anlass war der dritte Hochzeitstag des Paares. Gegen Abend brach das Unwetter los. Seither bestätigt sich laut Peter Gläser eine schlichte Erkenntnis immer wieder: "Wir müssen als Familie zusammenhalten."

Weil die eigenen Kräfte dennoch nicht reichten, sei man für jede Art von Hilfe zutiefst dankbar. Überlebenswichtig - eine erste Unterstützung durch das Land, das Baumaterial zur Verfügung stellt. Annika Gläser spricht von einem Segen. Ihr Mann unterstützt ihre Aussage, in dem er tüchtig mit dem Kopf nickt. Gleichzeitig versenkt der Heimwerker eine Schraube nach der anderen im Gebälk: "Ohne die Soforthilfe wäre das Ende tatsächlich besiegelt gewesen. "

So aber ging es weiter. Das Sozialamt übernahm die Aufwendungen für einen Teil der Küche und der beiden Kinderzimmer. Bettdecken und Spielsachen, darunter eine große Puppe mit blonden Locken, stellte ein Verein der christlichen Nächstenliebe aus Schönebeck zur Verfügung.

Damit ist Not gelindert, aber nicht beseitigt. Die bauliche Herausforderung bleibt bis auf weiteres immens. Peter Gläser: "Ganz ehrlich, manchmal verliert man den Überblick." Mit Geld ließe sich manches regeln, aber gerade daran fehle es eben. Und damit nicht genug: Seine Frau leide an einer chronischen Krankheit. Umso bemerkenswerter wirkt auf ihn, wie sie mit gerade 1,57 Metern dennoch emsig die Putzkelle schwingt. Wie und wann das Haus einmal ganz fertig werden soll, so Gläser, könne heute niemand sagen. Auch wenn Verwandte und Freunde mit anpacken, lebe man bestimmt noch lange auf einer Baustelle.

Es sind unzählige, oft auch ungewohnte Handgriffe, die zu erledigen sind. Das Glas für die Fenster beispielsweise ist eigenhändig in alte Rahmen eingebaut - mit etwas Geschick und viel Kitt, so wie vor Jahrzehnten. Das sei natürlich billiger als der Kauf fabrikneuer Fenster, sagt Peter Gläser. Als Lösung auf Dauer tauge seine Methode leider nicht. "Weil die Wärme rasch entweicht, steigen die Heizkosten", erklärt seine Frau und fügt sogleich hinzu, dass man an diesen Posten besser gar nicht denke. Sonst verfliege die Festtagsfreude. Ihre Sorge: "Hoffentlich wird der Winter nicht so kalt." Gläsers haben sich den Heizkosten-Zuschuss für 2012 schon auszahlen lassen.

3 000 Euro - viele nützliche Dinge habe man sich davon anschaffen können: Die Familie kann jetzt zwei neue Öfen heizen, teilweise schon wieder über Laminat laufen. Eine Zwischendecke ist eingezogen, Holztüren sind ausgetauscht und etliche Wände frisch tapeziert.

Immer wieder rechnen

Ein Kapitel für sich ist der tägliche Einkauf beim Discounter. Annika Gläser wirkt da oft ratlos. "Es wird gerechnet und gespart, und gespart und gerechnet, aber ob das alles hilft?" Der Elektriker müsste endlich den neuen Herd anschließen. Dann entfalle die Rechnung für das Nachfüllen der Propangasflasche am alten Küchenofen. Und erst dann könne sie sich auch beruhigt für einige Tage ins Krankenhaus legen. Damit, wie sie sagt, die Ärzte ihre Blutwerte wieder in Ordnung bringen können. Das sei überfällig, sagt Annika Gläser.