Nutzung von Leichen aus NS-Zeit Nutzung von Leichen aus NS-Zeit: Skrupel in der Uni Halle?

Halle (Saale) - Verdruckst und sehr, sehr langsam, Jahrzehnte nach Kriegsende, begann in Deutschland die Aufarbeitung eines dunklen Kapitels in der Geschichte der Anatomie während der NS-Zeit: die Nutzung der Leichen von Hingerichteten des Nazi-Regimes zu Lehr- und Forschungszwecken. „Soweit bekannt ist, nahmen alle anatomischen Institute im Deutschen Reich die steigende Zahl von Leichnamen Hingerichteter gern und ohne Zögern an“, heißt es in einem Artikel des Ärzteblattes aus dem Jahr 2012.
Diese Aussage kann nun revidiert werden: Das Anatomische Institut der Universität Halle nahm ab 1943 die „ihm zustehenden“ Leichen nicht mehr beziehungsweise nur noch in sehr geringer Zahl an. Nach seiner Kenntnis sei es das einzige Institut in ganz Deutschland, das so gehandelt habe, sagt Michael Viebig.
Massenhafte Verwertung von Hingerichteten während der NS-Zeit: Historiker und Leiter der Gedenkstätte Roter Ochse in Halle forscht seit Jahren
Der Historiker und Leiter der Gedenkstätte Roter Ochse forscht seit Jahren, mit großer Unterstützung von Rüdiger Schultka, dem ehemaligen Leiter des halleschen Anatomischen Institutes, zu dem Thema.
Dass Anatomen die Leichname Hingerichteter verwendet haben, war gängige Praxis schon seit dem späten Mittelalter. Begehrt waren die Körper, schließlich handelte es sich häufig um junge, gesunde Menschen. Ihre Verwendung war legal - die Institute konnten schon im 19. Jahrhundert bei Gericht den Antrag auf die Zuweisung einer Leiche oder auf die Erlaubnis zur Entnahme von Präparaten stellen und wurden dann berücksichtigt. Überall lief das so, auch in Halle. Ab Anfang der 1920er Jahre versiegte diese „Quelle“, Todesurteile wurden damals kaum noch ausgesprochen und noch weniger vollstreckt.
Von 1933 bis 1936 bekam die Anatomie in Halle 30 Leichen aus dem gesamten Oberlandesbezirk
Bis 1933, als die Nazis an die Macht kamen. „Von 1933 bis 1936 bekam die Anatomie in Halle 30 Leichen aus dem gesamten hiesigen Oberlandesbezirk, denn vollstreckt wurde an allen Orten, an denen sich Landgerichte befanden“, sagt Michael Viebig. „Später dann, als die Guillotine als Exekutionsinstrument vorgeschrieben wurde, brachte man die in Halle Verurteilten nach Weimar zur Hinrichtung, und Halle hatte keinen Zugriff mehr auf die Leichname. Die gingen an die Universität Jena.“ Lediglich zwischen zwei und vier Körper von Exekutierten erhielt das Institut zwischen 1939 und Herbst 1942 pro Jahr.
Währenddessen stieg die Zahl der zum Tode Verurteilten in Deutschland massiv an: Durch die sogenannten Sondergerichte wurde seit Kriegsbeginn im Herbst ’39 zunehmend über Kleinkriminelle die Todesstrafe verhängt. Bis dahin stammten die Leichname von Hingerichteten überwiegend von Kapitalverbrechern. Besonders in der Zeit von 1942 bis 1944 stieg die Zahl der Todesurteile dann sprunghaft an.
Wissenschaftler in Halle: Die Anatomen haben den Grund für die maßlose Ausdehnung der Todesstrafe zunächst nicht erkannt.
„Die Anatomen haben den Grund für die maßlose Ausdehnung der Todesstrafe, die nun zur Sicherung der kriegswirtschaftlichen Situation erfolgte, zunächst nicht erkannt“, vermutet Michael Viebig. Außer, so seine Erkenntnis, in Halle. Zwar zeigte man sich auch hier zunächst zufrieden, als im „Roten Ochsen“ im November 1942 eine eigene Hinrichtungsstätte in Betrieb genommen wurde und man somit die Opfer für sich beanspruchen konnte. Aber von den insgesamt 549 dort Getöteten gelangten „nur“ maximal 75 bis Kriegsende in das hallesche Institut.
„Wir wissen aus Schriftstücken, dass Halle bereits ab Frühjahr 1943 fast keine Leichname mehr angenommen hat.“ Warum das so war, konnte der Historiker bislang nicht herausfinden. Wussten die Verantwortlichen um die Hintergründe der Todesurteile? Hatten sie Skrupel? „Ich vermute das, denn aus den Veröffentlichungen in den Zeitungen wusste man sehr genau, wer warum getötet wurde.“ Es gäbe, denkt der Historiker, eigentlich keine andere Erklärung für die Zurückhaltung in Halle.
Auch Name der Stadt Halle taucht im Zusammenhang mit verbrecherischen Experimenten in der NS-Zeit auf
Freilich taucht der Name der Stadt durchaus im Zusammenhang mit verbrecherischen Experimenten in jener Zeit auf. Hermann Stieve, mehr als 15 Jahre lang bis 1936 Leiter des halleschen Anatomischen Institutes und 1933 sogar mehrere Monate lang Rektor der Universität, machte im Rahmen seiner Lehr- und Forschungstätigkeit an der Universität Berlin während des Krieges durch seine Untersuchungen der Auswirkungen von Stress auf die weiblichen Fortpflanzungsorgane von sich reden.
Junge Frauen, psychisch extrem belastet durch ihr Todesurteil, waren ihm willkommene Opfer - unter denen sich Widerständlerinnen und Zeuginnen Jehovas befanden. Und der hallesche Zoologe Gotthilft von Studnitz führte im „Roten Ochsen“ Medikamentenversuche durch mit Todeskandidaten, denen er kurz vor der Hinrichtung eine Emulsion verabreichte und danach deren Auswirkungen auf die Augen der Opfer untersuchte.
Massenhafte Verwertung von Hingerichteten während der NS-Zeit: Immer wieder tauchen Dokumente auf, die neue Fakten liefern.
Die Aufarbeitung dieses Teils der Geschichte ist, und auch das ist ein Novum in Deutschland, Mitte der 1990er Jahre vom Anatomischen Institut selbst initiiert worden. Bis heute hat es gemeinsam mit der Medizinischen Fakultät und der Gedenkstätte Am Kirchtor einen großen Anteil an der weiterhin notwendigen Forschung. „Es gibt kaum eine andere Universität, an der mit diesem Thema so verantwortungsvoll und aktiv umgegangen wird wie bei uns“, hat Michael Viebig festgestellt.
Beendet ist die Arbeit indes noch lange nicht: Immer wieder tauchen Dokumente auf, die neue Fakten liefern. Und das Bekanntmachen der Opfer, ihre Lebens- und Leidensgeschichten, wird noch viel, viel Zeit benötigen. (mz)