Kinder mit Behinderung Montessorischule in Halle: Kinder mit Behinderung - Warum Integrationshelfer wichtige Säulen im Unterricht sind

Halle (Saale) - Die Memory-Karte zeigt einen Elefanten. Sofort hält Tim seine Hände so vor die Nase, dass sie einen Rüssel bilden. Als nächstes dreht der Junge eine Karte um, auf der ein Orang-Utan abgebildet ist. Tim greift sich unter die Arme und tut so, als wäre er ein Affe.
Dabei lacht er verschmitzt und schaut Maxi Schneckenburger an. Die grinst zurück. „Affe oder Elefant kann Tim noch nicht sagen“, erklärt sie. Und das, obwohl er Ende des Monats zehn Jahre alt wird. Der Junge hat das Down-Syndrom. Seine schulische Entwicklung ist verzögert. Trotzdem geht er nicht in eine Förderschule, sondern auf eine Regelschule. Und dass das gelingt, daran hat auch Maxi Schneckenburger einen großen Anteil.
Die 19-Jährige absolviert seit August 2018 ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) an der Montessorischule in Halle. Dort ist sie den gesamten Schultag über nur für eine einzige Person da: Tim. Denn Schneckenburger ist die Integrationshelferin des Jungen. Sie unterstützt ihn, begleitet ihn, spielt mit ihm. „In den vergangenen Monaten haben wir ein richtig enges Verhältnis entwickelt“, sagt sie. Fast wie eine große Schwester.
Integrationshelfer sind wichte Säulen des Unterrichtsalltags in Sachsen-Anhalt
Integrationshelfer gibt es erst wenige Jahre in Sachsen-Anhalt, doch sie sind bereits zu einer wichtigen Säule des Unterrichtsalltags geworden. Sie kommen immer dann zum Einsatz, wenn Kinder mit einer geistigen, körperlichen oder seelischen Beeinträchtigung in der Schule Unterstützung brauchen.
„Sie helfen dabei, dass Inklusion gelingen kann“, sagt Katja Hartge-Kanning. Sie leitet die Freiwilligendienste beim Deutschen Roten Kreuz Sachsen-Anhalt (DRK), über das auch Maxi Schneckenburger ihr FSJ macht. „Inklusion bedeutet ja, dass alle Kinder - egal welche Voraussetzungen sie haben - an jeder Schule beschult werden können“, erklärt Hartge-Kanning. Die Idealvorstellung wäre also, dass Kinder mit Behinderungen nicht auf eine Förderschule gehen, sondern wie alle ihre Altersgenossen eine Regelschule besuchen.
In der Praxis ist das allerdings oft kaum möglich - meist, weil das nötige Personal fehlt, um die Kinder mit ihren Herausforderungen angemessen betreuen zu können. „Deswegen greift man auf Hilfspersonal zurück, zu dem auch die FSJler gehören“, sagt Hartge-Kanning. „Wäre die Inklusion schon komplett umgesetzt, bräuchte es die Integrationshelfer nicht mehr.“
Entlastung für Lehrer auch bei nicht-schulischen Dingen
Doch derzeit wird jedes Paar Hände benötigt - das kann man auch in der Montessorischule in Halle beobachten. Das Konzept dort sieht viel Freiarbeit vor. Auf dem Flur sitzt Integrationshelferin Luisa Strandmann mit einem geistig behinderten Mädchen. Das vergräbt gerade sein Gesicht in seinen Armen. „Wir wollen eigentlich Flächen messen“, sagt Strandmann. Allerdings sei die Motivation nicht allzu hoch. „Aber das wird gleich wieder, sie braucht nur einen kurzen Moment für sich“, sagt die 19-Jährige FSJlerin.
Die Szene beobachtet auch Nadja Kulig, die stellvertretende Schulleiterin. „Genau für solche Situationen sind die Integrationshelfer total wichtig“, sagt sie. Für manche Kinder sei es sehr schwierig, sich lange auf Aufgaben zu konzentrieren. „Das kann aufgefangen werden, wenn jemand daneben sitzt und sie aufmuntert, unterstützt und auch etwas vorantreibt“, sagt Kulig.
Entlastung für die Lehrer gebe es auch bei nicht-schulischen Dingen - etwa Toilettengängen. Dabei brauchen zum Beispiel körperbehinderte Kinder Unterstützung. Die können FSJler geben. „Für unsere Lehrer wäre das schwierig, denn sie müssten dafür ja ihre Klasse alleine lassen.“
Acht Integrationshelfer an Montessorischule in Halle
An der Montessorischule arbeiten acht Integrationshelfer. Hinzu kommen noch vier Integrationsbegleiter. Letztere sind nicht nur ein Schuljahr bei den Kindern, sondern begleiten sie die gesamte Grundschulzeit. „Wir haben auch Schüler, die schon viele Beziehungsabbrüche erlebt haben“, erklärt Kulig. Für die seien feste Strukturen und Bindungen wichtig.
Tims persönliche Begleiter wechseln jedes Schuljahr. Doch der Junge mit der roten Brille ist sehr aufgeschlossen, nimmt schnell Kontakt auf. „Er macht es einem nicht sehr schwer“, sagt Maxi Schneckenburger. Sie sitzt auf einer blauen Matte im Hortraum neben Tim. Der schaut intensiv die Memory-Karten an, die er gerade aufgedeckt hat. Löwe und Hund - dass das nicht zusammen gehört, erkennt Tim schnell. Maxi ist dran. Auch sie dreht zwei Karten um: Wolf und Reh - auch das passt, zumindest bildlich, nicht wirklich.
Nach dem Abitur, sagt Schneckenburger, wollte sie unbedingt etwas mit Kindern machen. „Und es sollten auch besondere Kinder sein - wie Tim.“ Der lerne viel, werde von Tag zu Tag selbstständiger. „Dazu auch ein bisschen beizutragen, ist schon ein richtig gutes Gefühl“, sagt die 19-Jährige. Allerdings mache nicht nur Tim eine Entwicklung durch, auch sie selbst lerne jeden Tag dazu. „Ich bin viel konsequenter geworden“, mein Schneckenburger und dreht die nächste Karte um.
Viel zu kurzes FSJ-Jahr
„Die FSJler werden innerhalb des einen Jahres andere Menschen“, sagt auch DRK-Freiwilligendienst-Leiterin Katja Hartge-Kanning. Manchmal fangen sie als in sich gekehrte Jugendliche an und beenden die Zeit an der Schule als aufgeschlossene, erwachsenere Personen.
Allerdings müsse mitunter die Erwartungshaltung an die Integrationshelfer auch gebremst werden. „Es kommt schon einmal vor, dass Eltern sich beschweren, ihre Kind würden nicht gut genug Lesen oder Schreiben lernen - dabei hätten sie doch einen eigenen Begleiter“, erzählt Hartge-Kanning. In solchen Fällen sei es wichtig, darauf hinzuweisen, dass die jungen Hilfskräfte kein pädagogisches Personal ersetzen können. „Obwohl wir sie mit Seminaren gut auf ihre Aufgabe vorbereiten, sind sie natürlich keine Lehrer.“
Die Kinder voranbringen, wollen sie trotzdem. Maxi Schneckenburger übt mit Tim zum Beispiel die Deutsche Gebärdensprache. „Da lernt er immer mehr Worte dazu“, sagt sie. Und Tim - der lässt für einen kurzen Moment mal die Memory-Karten aus den Augen und stürzt sich auf Schneckenburger. „Er kuschelt sehr gerne“, meint die 19-Jährige und sagt dann mit einem Seufzer: „Leider kann man das FSJ nicht verlängern - ein Jahr ist wirklich viel zu kurz.“
Gelungene Inklusion?: Aktionstag zu Film auch in Sachsen-Anhalt
Kann Inklusion, der gemeinsame Unterricht von behinderten und nicht-behinderten Kindern, gelingen? An einer Berliner Grundschule wird diese Frage bereits seit den 70er Jahren praktisch erprobt. Eine der Klassen wurde vor 15 Jahren von einem Kamerateam und dem Regisseur Hubertus Siegert begleitet. Daraus entstand der Dokumentarfilm „Klassenleben“, der viel Aufmerksamkeit in der Bildungslandschaft bekam.
Nun haben Regisseur und Filmteam sechs der Kinder von damals erneut besucht - drei von ihnen sind behindert, drei nicht. Herausgekommen ist: „Die Kinder der Utopie“. Ein Dokumentarfilm, der gar nicht werten will, ob die Inklusion gelungen ist oder nicht.
Er lässt die Protagonisten einfach über ihr Leben sprechen - und sagt damit schon viel. Wer den Film sehen will, hat am Mittwoch die Chance. Da findet ein bundesweiter Aktionstag statt. In Halle kommt „Kinder der Utopie“ im Puschkino ab 18 Uhr (sieben Euro Eintritt). Anschließend gibt es eine Diskussion. (mz)