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Literatur-Geschichte Literatur-Geschichte: Dichter für Händel gefeuert

Von Bernhard Spring 02.01.2013, 19:45

Halle (Saale)/MZ. - Manchmal entscheidet ein einziger Buchstabe über die Gunst, die einem Autor entzogen werden kann. Als Erich Kästner (1899-1974) im Jahr 1927 sein "Abendlied des Kammervirtuosen" anstimmte, ließ er darin den Musiker "zart in deine Seiten greifen" - dem Leser war schnell klar, dass in diesem Gedicht kein Cellist den Saiten seines Instrumentes huldigte: Hier wurde mit musikalischen Wortwendungen das Stelldichein mit einer Geliebten besungen. "Du meine neunte letzte Sinfonie!", schmachtet der Verliebte, den Kästner in diesen vier Strophen sprechen lässt, "Wenn du das Hemd anhast mit rosa Streifen ..."

Zunächst bleibt Kästner ganz in seiner versinnbildlichten Sprache. "Lass mich in deinen Partituren blättern. / Sie sind voll Händel", heißt es da von dem Musiker, der mit seiner Geliebten "durch Oktavengänge schreiten" will und sie zu immer mehr Einsatz anstachelt. "Doch beim Crescendo etwas mehr Pedal!" Zuletzt aber bricht Kästner gekonnt aus seiner Musikmetapher und stellt einen selbstbewussten Liebhaber vor: "Nun senkst du deine Lider ohne Worte ... / Sag einen Ton, falls du noch Töne hast." Kästners "Abendlied des Kammervirtuosen" ist eins der bekanntesten Gedichte des Schriftstellers, sorgte aber nach seinem Erstabdruck in Leipzig für einen Skandal, nicht zuletzt aufgrund der eindeutigen Karikatur des Zeichners Erich Oser, der später als e. o. plauen die "Lustigen Streiche und Abenteuer von Vater und Sohn" bebildern sollte.

Ausgerechnet im Beethoven-Jahr 1927 - der Todestag des Komponisten jährte sich zum hundertsten Mal - verulkte Kästner diese Ikone der deutschen Klassik. Ausgerechnet Händel musste es sein, dessen Musik einem schlüpfrigen Liebesspiel den Takt vorgab! "Die Leipziger Neuesten Nachrichten widmeten unserer ,Tempelschändung‘ einen geharnischten Leitartikel und attackierten nicht nur uns beide, sondern auch die Neue Leipziger Zeitung, die solche Frevler beschäftigte", berichtete Kästner später. "Und am nächsten Tage saßen wir, von unserem Verlagsdirektor fristlos entlassen, verdutzt auf der Straße."

Was Kästner so heiter beschreibt, erinnerte seine Lebensgefährtin Luiselotte Enderle ganz anders. Kästner und Ohser machten nach ihrer unerwarteten Kündigung "einen sehr düsteren Eindruck". Die Humoristen hatten den Skandal um ihr Gemeinschaftswerk unterschätzt, hatten mit mehr Rückhalt seitens der Redaktion gerechnet - und nun war ihnen die Freude an dem "gereimten und gezeichneten Scherz" ordentlich vergangen. "Und ich schaute Kästner an. Zum ersten Mal mit anderen Augen", beschrieb Enderle.

Von der Zeitung, die ihn eben noch gekündigt hatte, bekam Kästner schnell das Angebot, weiterhin für sie tätig zu sein - als Theaterkritiker von Berlin aus. Kästner blieb in Ermangelung anderer Angebote nichts weiter übrig, als sich darauf einzulassen: ein "Fußtritt Fortunas", wie sich bald herausstellen sollte. In Berlin fand Kästner wesentlich mehr Veröffentlichungsmöglichkeiten vor als in Leipzig, seine Texte waren gefragt, sein Name bald bekannt. Schon ein Jahr nach dem Skandal um sein "Abendlied" erschien Kästners erster Gedichtband "Herz auf Taille", dem einige andere in kurzer Zeit folgen sollten. Gleich in seinen Debütband aber nahm Kästner das Gedicht, das ihn in Leipzig seine Stellung gekostet hatte, mit auf.