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Leopoldina Leopoldina: Plüschsessel der Macht

Von GÜNTER KOWA 05.03.2010, 18:22

Halle/MZ. - In das Bild pseudo-ehrwürdiger Einschüchterung passt die steife Symmetrie und kleinbürgerliche Gemütlichkeit der Einrichtung. Im Empfangssaal krönt das Relief eines "Ausritts zur Jagd" den Kamin in der Mittelachse des Saals, und genauso penibel wie im Sitzungszimmer sind die Tische und Polstersessel zu beiden Seiten der Achse ausgerichtet.

Wenige Hallenser wissen, dass zwar von der Einrichtung nichts, vom Ambiente aber einiges erhalten ist. Es blieb in dem Gebäude fast unangetastet, das bis vor ein paar Jahren örtlich als "Tscherny-Haus" bekannt und im Universitätsbetrieb viel frequentiert war. Denn dazu gehörte es seit Anfang der 50er Jahre, als der Sowjetkommandant auszog und es der halleschen Alma Mater mit der Widmung an den russischen Sozialrevolutionär und Literaten Nikolai Tschernyschewski übergab.

Doch der Prachtbau hoch über der Saale, gleich neben der Moritzburg, ist älteren Datums und erlebt gerade die jüngste Wendung in seiner Geschichte. Die einstige Freimaurer-Loge "Zu den drei Degen" gehört seit kurzem der Akademie der Naturforscher Leopoldina, und sie ist es, die sich in ihrer neuen Würde als Nationalakademie der Geschichte des Hauses stellen muss, zu der sie einen ganz eigenen Bezug hat.

Um dies zu verstehen, braucht es den Blick auf die Leopoldina in den 30er Jahren, als sie sich wie alle Institutionen im "gleichgeschalteten" Staat zu den neuen Machthabern verhalten musste. 1938 schreibt der damalige Präsident, Emil Abderhalden, an den Gauleiter einen Brief. "Ich bitte Sie", heißt es darin, "Kenntnis zu nehmen, dass unserer Akademie nur Persönlichkeiten angehören, die keine Juden sind." Alle Mitglieder habe er "peinlich genau auf ihre Abstammung geprüft". Dieser Diensteifer zeigt Erfolg: "Die in früheren Zeiten gewählten Mitglieder sind ausgemerzt." Es stehe also "die Zusammensetzung des Mitgliederbestandes unserer Akademie in vollem Einklang mit den Erfordernissen der Zeit." Nun steht dieses Zeugnis von vorauseilendem Gehorsam in den Annalen der Akademie und ist nicht "auszumerzen".

Dies will auch niemand. Jedoch geben sich die hauseigenen Historiker der Leopoldina in mehreren Aufsätzen zu diesem Thema alle Mühe, die historische Gestalt Abderhalden nicht nur im Licht dieser Äußerung erscheinen zu lassen. Tatsächlich wird sie unter anderem dadurch relativiert, dass der Präsident schon vor seinem Amtsantritt im Jahr 1932 nicht weniger als 37 jüdische Wissenschaftler für die Mitgliedschaft vorgeschlagen, weitere 27 in seiner frühen Amtszeit hat wählen lassen. Dennoch hat sein späterer Nachfolger Benno Parthier nach der Wende eine öffentliche Entschuldigung für die Streichung der jüdischen Mitglieder ausgesprochen. Jetzt aber stand für dessen Nachfolger Volker ter Meulen eine deutlichere Geste der Sühne an. Der geplante Umzug an einen so prominent erhaltenen Ort der Nazi-Herrschaft machte sie vollends unvermeidlich.

Vor kurzem hat die Akademie an ihrem Stammsitz nahe der Unibibliothek eine Stele enthüllt, die unübersehbar vor dem Portal des neuen Präsidialsitzes aufgestellt werden soll. Auf der Plastik von der Hand des halleschen Bildhauers Bernd Göbel sind die Namen der acht jüdischen Mitglieder sowie eines polnisch-stämmigen Mitgliedes zu lesen, die in Konzentrationslagern der Nazis ums Leben kamen.

Zum Beispiel der Anatom Maximilian Flesch. Der war 90 Jahre alt, als er 1942 mit seiner Frau aus Darmstadt deportiert wurde. Wenig später stirbt er in Theresienstadt. Noch 1930 hatte er ein Buch über die Verwundetenpflege im Krieg geschrieben. Zugleich spiegelt sich in seiner Reaktion auf seine Verhaftung die Pervertierung humanistischer Werte, die die NS-Rasse-Ideologie selbst noch in ihren Opfern bewirkte.

Im Archiv der Leopoldina liegt ein Brief Fleschs, in dem er seine Not ausgerechnet Abderhalden mitteilt. Er, Flesch, begreife nicht, wie ihn und seine Frau so viel Misshandlung treffe, "nur der (jüdischen) Großeltern wegen". Er selbst sei nicht beschnitten, dafür christlich getauft und kirchlich getraut worden, ja selbst "unsere Kinder und Enkel haben arische evangelisch christliche Ehepartner". Dem "Herrn Geheimrat" versichert er unter "Ausdruck meiner größten Verehrung", dass die zugesagte "Überlassung der Sammlung seiner literarischen Arbeiten" bestehen bleibe.

Es sind Geschichten wie diese, die die Leopoldina an ihrem künftigen Wirkungsort wird erzählen müssen. Zugleich weist die Gedenkstele auf eine ganz andere Tiefenschicht des Ortes hin: Die Anhöhe, auf der die Freimaurer 1792 ihre Residenz errichteten und seitdem mehrmals um- und ausbauten, ist eine Schanze, die Kardinal Albrecht im 16. Jahrhundert anlegte. Das Material dafür kam aus dem Aushub des Grabens an der Moritzburg, und es verschüttete die Judenvorstadt mit dem Friedhof.

Unter den Nazis war die Freimaurerei verboten. Das Anwesen traten sie unter Zwang an die Stadt ab. Die Verwaltung plante zunächst, im Haus eine "Pflegestätte der gediegenen Geselligkeit" einzurichten, überließ es aber bald dem Gauleiter - nominell zur Miete, in Wahrheit auf Stadtkosten. Es ging darum, "den Einklang der Verwaltung mit der Partei zu fördern", wie es der Oberbürgermeister begründete. Umfangreich wurden das Treppenhaus und einige Räume den Stilvorstellungen der Machthaber angepasst.

Alte Fotos im Besitz des Stadtarchivs zeigen die Ausstattung: Tische mit geklöppelten Spitzendecken, Polstersessel und Kronleuchter, aber auch Plastiken aus Meißner Porzellan, daneben Vasen und Schalen aus der "Meisterschule der Burg Giebichenstein". Die Reliefs schuf der Dresdner Bildhauer Walter Reinhold. Der Sowjetkommandant ließ den Hakenkreuzadler abmeißeln und das Jagdrelief zumauern.

Das kam erst bei Untersuchungen zutage, als die Freimaurer das Haus nach 2000 rückübertragen bekamen. Unter Putz fanden sie auch Teile allegorischer Wandmalereien in einem ehemaligen "Tempelraum". Die vielen Schichten der Zeitgeschichte freizulegen, ist jetzt Aufgabe der neuen Hausherrn, der Leopoldina.