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Leistung als Leitkultur Leistung als Leitkultur: Was Halle zu den Debatten der Gegenwart beizusteuern hätte

Von Detlef Färber 02.11.2017, 18:46
Auch in Luthers hallescher Kirche - der Marktkirche, wo er selbst gepredigt hat - ist der Feiertag mit einem Gottesdienst begangen worden. Außerdem kamen am Dienstagnachmittag 15 Radfahrer aus fünf Bundesländern auf dem halleschen Markt an. Sie hatten den Weg eines Briefes nachempfunden, den Luther am 31. Oktober 1517 von Wittenberg an Kardinal Albrecht in Halle geschickt hatte, um sein Handeln zu erläutern.
Auch in Luthers hallescher Kirche - der Marktkirche, wo er selbst gepredigt hat - ist der Feiertag mit einem Gottesdienst begangen worden. Außerdem kamen am Dienstagnachmittag 15 Radfahrer aus fünf Bundesländern auf dem halleschen Markt an. Sie hatten den Weg eines Briefes nachempfunden, den Luther am 31. Oktober 1517 von Wittenberg an Kardinal Albrecht in Halle geschickt hatte, um sein Handeln zu erläutern. Holger John

Halle (Saale) - Ob es vielleicht doch ein echtes Lutherwort ist? Der Spruch passt jedenfalls zu dem Mann aus Eisleben und Wittenberg, der mehrfach in Halle war: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch mein Apfelbäumchen pflanzen.“ Aber nach Ansicht des Lutherforschers Martin Schloemann hat ein späterer Landsmann des Reformators den Satz wohl erst kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs in den Blätterwald gepflanzt. Was natürlich auch passen würde.

Doch egal wann und für welche Zeit ursprünglich gesagt, transportiert dieser Spruch in Luthers Diktion, was der große Sohn unserer Region der Welt - gerade auch der heutigen - wohl sagen würde: Einer Welt, von der er in einer seiner Tischreden so unübertrefflich gesagt hat, sie sei „wie ein betrunkener Bauer“, der, wenn man ihn auf einer Seite aufs Pferd hebt, gleich auf der anderen Seite wieder herabfalle.

Was für eine Ermutigung für alle die, die sich um diesen Bauern und um die Welt kümmern zu müssen glauben! Versucht’s noch mal, sagen uns der Bauer-Spruch und die Bäumchen-Geschichte: Legt los, auch wenn’s aussichtslos scheint. Bringt was zustande: Dort, wo die Untergänge drohen!

Besinnung aufs Eigentliche

Das Reformationsjubiläum ist just in eine Zeit gefallen, in der sich Luthers Land - Mitteldeutschland im Kleinen und Deutschland oder Europa im Großen - angeblich neu erfinden muss. Falls demso ist, müsste das auch auf einer Rückbesinnung fußen. Einer Rückbesinnung etwa darauf (siehe Luthers Zwei-Reiche-Lehre), dass man zumindest einerseits die Gesetze des „weltlichen Regiments“ zu achten und auch zu vollziehen hat.

Und im Sinne Luthers wäre dies eine Rückbesinnung auf das jeweils eigene Eigentliche, auf Quellen, auf Wurzeln. In diesem Sinne ließe sich verstehen, was unter demzwar umstrittenen Begriff Leitkultur dann doch zu Unrecht in Verruf geraten ist. Die demnächst wohl ausscheidende und eigentlich für Integration zuständig gewesene deutsche Staatsministerin mit türkischen Wurzeln, Aydan Özoguz (SPD), hat Protest, aber durchaus auch Beifall geerntet für ihre Äußerung, über die gemeinsame Sprache hinaus sei für sie „keine spezifische deutsche Kultur identifizierbar“. Und hat damit einmal mehr die tiefe Spaltung des Landes offenbar werden lassen.

Doch was im Großen oft nicht mehr erkannt wird, könnte im Kleineren sichtbar werden. Vielleicht lässt sich noch feststellen, was an typisch Mitteldeutschem oder gar Halleschem über Hunderte Jahre hinweg aus dem großen deutschen und europäischen Orchester herauszuhören war.

Ergebnisoffenes Denken

Keine Bange: Leitkultur, das sind nicht nur hiesige Schöpfer von Weltkultur wie Luther, Goethe, Nietzsche, Bach, Wagner & Co., die allesamt auf lächerlich kleiner Fläche mit hundert Kilometer-Radius um Halle heranreiften oder tätig waren - oder direkt in Halle wie Händel, Francke und Christian Wolff. Vielmehr sind die Genannten alle schon Produkte dieser Kultur, die sie dann ihrerseits weiter gespeist und verfeinert haben. Und angereichert mit Kulturelementen aus anderen Weltgegenden und Epochen: Mit den dann originären Früchten dieser ihrer Kultur haben sie die Welt beschenkt.

Doch immerhin lassen sich anhand der großen Namen Einzeltugenden und Forderungen einer potenziellen Leitkultur illustrieren. So wäre Händel die Weltläufigkeit und ChristianWolff, als einem der Wegbereiter der philosophischen Aufklärung, die Unvoreingenommenheit zuzuordnen: Ergebnisoffenes Denken - ohne (nun wieder zunehmende) ideologische Bekenntniszwänge.

Interessant wird’s bei August Hermann Francke, der als Kind  seiner Zeit wohl nicht jeden heutigen Betrachter froh macht. Doch er war einer der kraftvollsten Protagonisten praktischer Nächstenliebe und sozialen Engagements. Allerdings einer, der seinen Schützlingen harte Forderungen gestellt und ihnen selbstverständlich abverlangt hat, sich in die von ihm definierte Kultur - eine streng pietistische - einzufügen. Und der diese seine Lebenskultur offensiv gepredigt hat, statt sie hinter verschämten Toleranzfloskeln zu verstecken (und sie damit schleichend aufzugeben). Man muss kein Anhänger dieser Art von Strenge und Selbstgewissheit sein, um sich von ihr doch mal wieder eine kleine Scheibe abzuschneiden.

Allen drei halleschen Leitkultur-Protagonisten gemeinsam ist übrigens der Leistungswille samt Innovationsgeist, der die hiesige Region in kurzer Zeit aus den Trümmern des Dreißigjährigen Krieges zu höchster Prosperität geführt hat: Auch teils in eine gefährliche und verhängnisvolle Hybris übrigens! Eindeutig nicht zu unserem Kulturerbe gehört aber ein aktueller hiesiger Leistungsbegriff, der Eigenleistung oder gar Spitzenleistung kaum noch meint, sondern vor allem „Leistungs“-Bezug. Und der sogar fahrlässig untätige Leute in ihrer Anspruchshaltung bestärkt und mit einem guten Gefühl versorgt beim jahrelangen Empfang von „Leistungen“, die vielleicht bald „bedingungslos“ gezahlt werden.

Das hat die Konsequenz, dass wir dabei sind, unser preußisch und sächsisch eingefärbtes Leistungsethos einer neuen Variante des gleichfalls schon alten Gleichheitswahns zu opfern. Während ein kulturell anders gefärbtes Leistungsethos aufblüht und triumphiert: in Nordamerika, in Ostasien, durchaus auch hier und da in Europa - und nicht zu vergessen im kleinen Israel.

Apropos Ausland: Auch noch ein vierter, einst weltweit tätiger Hallenser könnte für eine quasi hiesige Leitkultur reklamiert werden: Gerade in einer Zeit, in der Politik - speziell Außenpolitik - zunehmend von Meinungshelden in Predigermanier betrieben wird. Da erscheint ein Mann wie Hans-Dietrich Genscher, der im Stillen verhandelt und auf großer Bühne meist wortreich nur wenig preiszugeben verstand, wie ein ferner Heiliger. Einer, der noch wusste, dass verantwortliche Weltpolitik nicht aus Glaubenssätzen und Moral-Fanfaren bestehen darf, sondern einen Interessenausgleich schaffen muss, wenn sie friedlich bleiben will.

Dezente Begleitkultur

Und seine Leitkultur? Der Hallenser Genscher hat sie nur verkörpert - als dezente Begleitkultur und als Streitkultur (ja, so was gab’s mal!). Und als gelebten Realitätssinn. Auch Einfühlungsvermögen und Beharrlichkeit sind ihm hier zuzuordnen. Und ein erwachsenes Auftreten in öffentlichen Angelegenheiten. - Was? Alles pure Selbstverständlichkeiten! Wenn das so gewesen wäre in den letzten Jahren, hätten wir jetzt wohl nur halb so harte Kulturdebatten zu führen. Und wir hätten das Reformationsjubiläum nach Luther-Art mit Singen, mit Tanz und jeder Menge Tafelrunden feiern - und sogar dem betrunkenen Bauern aus Luthers Tischrede mal freundlich zuprosten können.

Aber so? Bleibt nach demJubiläum vieles nachzuholen! Und vieles deutlich anders zumachen. (mz)