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Kunst in Halle Kunst in Halle: Ganze Stadt als Galerie

Von Steffen Könau 21.11.2014, 17:55
Jürgen Langner vor einer Fliese mit dem „Schirmelinchen“
Jürgen Langner vor einer Fliese mit dem „Schirmelinchen“ Steffen Könau Lizenz

Halle (Saale) - Der Begriff Plattenbau bekommt am August-Bebel-Platz in Halle eine ungeahnte neue Bedeutung. Drei Stück hängen da an der Fassade, überkopfhoch, buntbemalt. Jürgen Langner begutachtet sie fachmännisch. „Früher“, sagt der studierte Mediziner und weist auf die buntverzierte Mauer, „hing dort drüben auch noch eine Schallplatte.“

Die ist weg wie so viele kleine Kunstwerke, die Langner in den letzten Jahren entdeckt, dokumentiert und katalogisiert hat. Für den 77-Jährigen kein Grund zum Traurigsein, denn gerade die Vergänglichkeit gehöre ja zu dieser seltsamen Art von Kunst, in die er sich vor genau fünf Jahren bei einem Morgenspaziergang zusammen mit seiner Frau verliebte. „Damals entdeckten wir diese skurrilen Fantasiefiguren aus Papier, die an Laternenmasten klebten.“

„Hooligan-Street-Art“

Das war eindeutig nicht die Sorte von Straßenschmiererei, die Langner bis heute abfällig „Hooligan-Street-Art“ nennt. Kein Gekrakel, kein Verunstalten von Fassaden. Sondern ein intelligenter, origineller Strich, mit dem liebevoll entworfene Figuren wie „Horst“ und „Ossis nine“ gezeichnet waren. „Ich fragte mich natürlich sofort, was das bedeutet, wer das macht und warum.“

Langner, der 1955 zum Studium nach Halle kam, später am Physiologisch-Chemischen Institut der Medizinischen Fakultät arbeitete und Mitte der 80er Jahre das Institut für Medizinische Immunologie gründete, ging nun mit einem ganz anderen Blick durch die Saalestadt. „Ich war schlagartig infiziert und meine wissenschaftliche Neugierde war geweckt.“

Mit einem Mal öffnete sich dem Forscher eine Welt, die er bis dahin nicht wahrgenommen hatte. An Wänden über Kopfhöhe entdeckt er aufwendig gestaltete Kunstwerke aus bemalten Fliesen. An Straßenlaternen kleben rätselhafte Bilder wie geheime Botschaften. Elektrokästen und Straßenschilder grüßen ihn mit Zeichnungen, Gemälden, ja, mit ganzen Motivserien aus Käfern, Fußballer-Porträts und küssenden Vögeln. Korkmännchen tanzen über den Köpfen der Passanten, Zäune tragen Strickkleider und aus Putzrinnen schauen winzig kleine, mit einer Pupille bemalte Augensteine herab.

Neu entdeckt

Jürgen Langner hat die Stadt, in der er seit fast 60 Jahren lebt, noch einmal neu entdeckt, seit sich ihm ihre andere Seite offenbart hat. Beinahe täglich ist er unterwegs, um neugeklebte Fliesen, frische Bilder und innovative Materialmischungen der anonymen Straßenkünstler mit der Kamera festzuhalten. Am Reileck etwa, sagt er, vergehe kaum ein Tag, ohne dass neue Kunstwerke erscheinen: Waren es anfangs oft noch Paketaufkleber der Post, die bemalt und öffentlich gemacht wurden, erinnern manche Stücke heute an kleine Plastiken. „Es gibt nicht mehr nur bemalte Fliesen, sondern Installationen aus mehrschichtigem Moosgummi oder bemalte Holzplatten, die in Form geschnitten sind.“

Anfang des Jahres versteigerte beispielsweise eine Gruppe, die sich „Stealing Banksy?“ nannte, sieben Banksy-Werke, die auf Wunsch der jeweiligen Immobilieneigentümer von deren Wänden entfernt worden waren. Die erzielten Einnahmen lagen im siebenstelligen Bereich. (stk)

Genau 6 973 Bilder von Kleinkunstwerken hat Jürgen Langner bis heute gemacht. Die meisten davon landeten mit Hilfe von Tom Leonhardt von der Freiraumgalerie auf einer Internetkarte, die die Position jedes einzelnen Stücks genau angibt, geordnet nach Art und Kategorie des Werkes. Ganz nebenbei ist der emeritierte Professor Jürgen Langner dabei zu Halles wandelndem Street-Art-Lexikon geworden. Er kennt die einzelnen Gruppen, er unterscheidet künstlerische Handschriften, er beobachtet aufmerksam, wie sich Künstlerpersönlichkeiten entfalten, aber auch, wie sich originelle Ideen abnutzen.

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„Das hier ist sicher erst drei Wochen alt“, analysiert er einen Sticker, der an einem Ampelmast klebt. Die aufwendige Installation an einer Wand gegenüber dagegen ist älter, die kleine Klebung mit dem Signet Areal 17 darunter besonders raffiniert. „Areal 17“, klärt Langner auf, „wird das optische Gedächtniszentrum im menschlichen Hirn genannt.“

Ein Bereich, den der stets mit einer Kamera bewaffnete Street-Art-Experte täglich trainiert, wenn er durch die Stadt pirscht. „Das sehe ich ja nun schon als meine Aufgabe an“, sagt er. Fachkundig unterscheidet Jürgen Langner die winzigen roten Sticker von „Herr Ja“ von den kaum größeren Insekten, die er der Künstlerin Dani Daphne zuordnet.

Ordnungsstrafe

Langner weiß, dass auch die hübscheste Miniatur illegal ist. Würden die Künstler ertappt, erwartete sie zumindest eine Ordnungsstrafe. Aber der Kurator der mit mehr als sieben Quadratkilometern größten, meistbesuchten und zugleich unbekanntesten Galerie Sachsen-Anhalts bittet um Nachsicht. Nicht für die hingehuschten Tags der Schmierer, aber für die aufwendig gestalteten Kleinkunstwerke der ernsthaften Aussteller.

„Jede einzelne Fliese, jede Plastik ist ein Unikat“, sagt er, während er in der Kardinal-Albrecht-Straße ein besonders gelungenes Werk zeigt. An der Hauswand steigt ein aus Kieseln und Bindfaden modellierter Heißluftballon in den trüben Innenstadthimmel auf.

Es ist eine Evolution, die sich auf den Straßen abspielt, zumeist nicht einmal bemerkt von den vorübereilenden Menschen. „Am Anfang bestimmte eine Gruppe namens ,Yeah!’ das Bild“, beschreibt der Kenner, „inzwischen aber scheint sich ein Generationswechsel vollzogen zu haben.“ Waren vor Jahren die Leute von der Yeah!-Crew auffällig, die „die Langeweile aus dem Alltag vertreiben“ und ihre Werke schon mal beim Paulusfest verkaufen wollten, wie Crew-Mitglied J. Flow damals gestand, ist die Abschottung nach außen heute komplett. Die Künstler verschwinden hinter ihrem Werk. Ihre Ambition ist es, gesehen zu werden und zugleich unsichtbar zu sein. Die fleißigsten Stadtverschönerer rechnet Jürgen Langner heute zu Gruppen, die ihre Werke mit „Cup“, „Tues“ und „Dick“ signieren. „Da ist ein ungeheurer Eifer und ein großer Einfallsreichtum zu spüren“, bescheinigt er den anonymen Straßenkünstlern.

Halle sticht heraus

Verglichen mit anderen Städten sticht Halle damit weit heraus. Weder Leipzig noch Erfurt oder Dresden haben eine ähnlich kreative und lebendige Szene, glaubt Jürgen Langner, der sich allerdings trotz seiner langjährigen Beschäftigung mit dem Thema nicht als Street-Art-Forscher, sondern als Sammler und Dokumentarist sieht. In Leipzig haben prominente Künstler wie Gérard Zlotykamien oder der Hamburger Funk 25 ihre Spuren hinterlassen, in Erfurt verzieren Street-Art-Fliesen eine Wand direkt am Landtag. Doch die vielfältigste eigene Szene hat Sachsen-Anhalts Kulturhauptstadt.

Anfang des Jahres versteigerte beispielsweise eine Gruppe, die sich „Stealing Banksy?“ nannte, sieben Banksy-Werke, die auf Wunsch der jeweiligen Immobilieneigentümer von deren Wänden entfernt worden waren. Die erzielten Einnahmen lagen im siebenstelligen Bereich. (stk)

Ob das an der Kunsthochschule Burg Giebichenstein liegt, die besonders viele kreative Köpfe anzieht, weiß auch Jürgen Langner nicht. „Die Leute sind ja nachts unterwegs, deshalb habe ich noch nie jemanden getroffen.“

Emsiger Sammler

Ein Umstand, der den emsigen Sammler keineswegs betrübt. „Ich möchte zwar schon manchmal wissen, was genau der Schöpfer sich bei welchem Motiv gedacht hat“, sagt er. Aber genaugenommen beziehe die Beschäftigung mit den Kunstwerken ihren Reiz auch daraus, dass eben kein Schlüssel zum Werk und keine fertige Interpretation mitgeliefert wird.

Jürgen Langner hat nur die Werke, um die Beziehungen zwischen den Herstellern zu erkunden. Die verraten ihm genug. „Ich glaube, Cup und Tues sind eine enge Verbindung eingegangen“, sagt er. Das sei aus Gemeinschaftswerken abzulesen, die die beiden früher getrennten Künstlergruppen zuletzt veröffentlicht hätten. „Es gibt sogar Hinweise darauf, dass auch Dick da jetzt mit im Bunde ist.“ (mz)

Street-Art in Halle mit Karte: www.streetart-halle.de

Street-Art-Videos von Tues: www.bit.ly/StreetartHalle

Pullover für ein Geländer.
Pullover für ein Geländer.
Steffen Könau Lizenz