Kriegskind erinnert sich an großen Bunkerbau Kriegskind erinnert sich an großen Bunkerbau in Halle: Ein Bleistift für den gefangenen Feind

Halle (Saale)/Siegen - Vor ein paar Wochen war er mal wieder in Halle - für „zwei Tage Händel“. Dabei kamen bei dem einstigen Hallenser Klaus H. A. Jacob gleich vielerlei Erinnerungen auf. Doch mag sein, dass es an der runden Zahl von 75 Jahren zeitlichem Abstand lag, dass sich der Ruheständler und einstige Augenarzt aus Siegen nun besonders einem Thema seiner Kindheit intensiver gewidmet hat.
Jedenfalls hat der inzwischen 83-Jährige seine Erinnerungen bis zum Kriegsende aufgeschrieben. Die MZ zitiert Auszüge seines Berichts, der einsetzt mit Beginn seiner Schulzeit in der Giebichenstein-Schule - später besuchte er das Thomas-Müntzer-Gymnasium.
1943 begannen Kriegsgefangene in Halle einen riesigen Luftschutzbunker zu bauen
Im Jahr 1943 begannen britische und ukrainische Kriegsgefangene in der Seebener Straße unter den Klausbergen, einen riesigen Luftschutzbunker zu bauen. Dazu wurde gesprengt und Grundwasser ständig ausgepumpt. Der Erdaushub wurde in Loren und dann per Lastenaufzug oben auf den Felsen verbracht. Meine Familie wohnte damals in der Krosigkstraße 3 (heute Geschwister-Scholl-Straße), nur wenige hundert Meter von der Baustelle entfernt.
Die Kriegsgefangenen traten durchaus selbstbewusst auf. Die Ukrainer trugen helle Drillichkleidung und kamen morgens in einer Marschkolonne und oft singend zur Bunkerbaustelle. Die Briten wurden mit einem Sonderwagen der Straßenbahn transportiert. Bewacher war nur ein einziger deutscher Soldat, sichtlich älteren Jahrgangs. Wenn der abends auf dem Heimweg mal bummelte oder ein Schwätzchen mit Passanten hielt, marschierten die Briten alleine weiter, stiegen ein und bimmelten entrüstet, bis endlich auch der Bewacher eintraf. Sie hatten es naturgemäß etwas eiliger zum sicher nicht üppigen Dinner nach der Arbeit.
Den elektrischen Lorenaufzug bediente damals David Lloyd aus Swansea
Den elektrischen Lorenaufzug bediente damals David Lloyd aus Swansea in Wales. Jedes Auf und Ab der Lore wurde von ihm mit einem Bleistiftstrich auf einer Bretterwand notiert. Wir Kinder konnten diesen „Außerirdischen“, die ja noch ihre braune britische Uniform trugen, stundenlang bei der Arbeit zuschauen. Ich selbst, als siebenjähriges Kind, war es, das den persönlichen Kontakt unserer Familie zu den Kriegsgefangenen am Bunker herstellte. Und ich versuchte auch schon meine ersten englischen Sprachbrocken anzubringen.
Bereits 1993 war in der MZ der Bunker an den Klausbergen Thema. Der einstige britische Kriegsgefangene John Coates, der den Bunker hatte mitbauen müssen, nahm 50 Jahre später Kontakt nach Halle auf, wo er nicht nur den Standort des Bunkers, sondern auch Kontakt zu Zeitgenossen suchte: „Bunker gesucht, Freunde gefunden“, war der MZ-Bericht überschrieben. Zahlreiche Zeitgenossen, die in den fraglichen Kriegsjahren Kinder oder Jugendliche gewesen waren, meldeten sich.
Eines Tages war Davids Bleistiftstummel zu Ende, und ich war gerade Zeuge dieser „Katastrophe“. In seiner Verzweiflung machte er mir klar, dass er einen neuen Bleistift benötigte. Aus dem nahen Zuhause brachte ich ihm sofort einen neuen. So wurde die erste Verbindung geknüpft. David unterhielt sich dann schon gelegentlich mit mir. Der Wachsoldat schaute weg. Als David etwas mehr Mut bekam, fragte er mich nach einem „apple“. Wahrscheinlich hatte er lange kein Obst mehr gesehen. Auch den brachte ich ihm aus unseren Küchenbeständen. Die eigene Versorgungslage war trotz des Krieges ja noch gut.
So ganz allmählich bekamen auch noch ein paar andere Kriegsgefangene Mut
So ganz allmählich bekamen auch noch ein paar andere Kriegsgefangene Mut, die anfängliche Sprachlosigkeit zwischen ihnen und uns Deutschen zu überwinden. Ich denke auch an James N. Hume aus Scarborough in Yorkshire und besonders an Nick Deyzel aus Durban in Südafrika. Jetzt wurde auch die englischlernende Schwester neugierig, sie war 13 Jahre alt und überwand ihre Scheu. So gut es ging, unterhielt man sich an der Baustelle. Auch Nick hat sicher seinen ganzen Mut zusammennehmen müssen, als er zu fragen wagte, wo die britischen Truppen im Westen jetzt stünden.
Die Brisanz dieser Frage war gewaltig - aber wir haben ihm die Auskunft gegeben, dank der Tatsache, dass mein Vater die Nachrichten der BBC hörte. Das war höchst gefährlich. Ab 1944 erhielten sie von uns immer wieder Hinweise über den Vormarsch der Alliierten im Westen. Im August 1997 besuchten meine Frau und ich die Ausstellung „Der Schatz der Wettiner“ im Schloss von Dresden. Dort erfuhr ich, dass auch der Prinz von Sachsen 1941 das Gleiche mit den bei ihm in Moritzburg arbeitenden französischen Kriegsgefangenen getan hatte.
Klaus Jacobs Bericht bestätigt Erinnerungen anderer Hallenser
Klaus Jacobs Bericht bestätigt Erinnerungen anderer Hallenser und des einstigen britischen Kriegsgefangenen John Coates (siehe „Treffen am Bunker“), die von freundschaftlichen Kontakten zeugen, die mutige Anwohner mit Gefangenen, also den vermeintlichen Feinden, gelegentlich - trotz damit verbundener Gefahren - pflegten.
Am 16. August 1944 wurde am helllichten Tag das Siebel-Flugzeugwerk bombardiert. Mein Vater, der dort arbeitete, konnte sich mit einigen Kollegen in eine entfernte Feldscheune retten und musste von dort aus dem Werk der Zerstörung zuschauen, wobei er um sein eigenes Leben bangte. Äußere Zeichen des totalen Krieges gab es inzwischen überall.
Im Frühjahr 1945 näherte sich die Kriegsfront von Westen her
So hatten viele Autos wegen des Spritmangels hinten einen „Ofen“ eingebaut. Das war der Holzvergaser. Im Frühjahr 1945 näherte sich die Kriegsfront von Westen her. Die Aktivität der deutschen Wehrmacht nahm in Halle zu, und durch unsere Straße marschierten immer häufiger Soldatenkolonnen.
Inzwischen kamen auch die ersten Flüchtlingstrecks mit ihren Planwagen aus den deutschen Ostgebieten Ostpreußen, Pommern und Schlesien in Halle an. Wir Kinder bestaunten sie aus den Fenstern unserer Schule und begriffen immer noch nicht, was mit Deutschland passierte.
Die Kriegspropaganda der Nazis nahm zu
Die Kriegspropaganda der Nazis nahm zu, nachdem sich die militärische Lage deutlich zugunsten der Alliierten verändert hatte. Überall hingen Plakate wie „Sieg oder Bolschewismus“, „Pst, Feind hört mit!“ oder „Achtung! Kohlenklau“. Neben dem Kontakt unserer Familie zu den britischen Kriegsgefangenen unterhielt der Vater auch noch eine vertraute Verbindung zu dem französischen Ingenieur und Kinobesitzer George Lefort aus Bourges (Cher), der im Konstruktionsbüro der Siebelwerke arbeiten musste.
Auch gab es noch den Arbeitskollegen Albert Kluth, der aus Kanada nach Deutschland zurückgekommen war – warum auch immer. Als die Bombengefahr und auch die Möglichkeit von Kampfhandlungen in Halle stieg, zog der Junggeselle Kluth sogar für einige Tage zu uns, denn der schon erwähnte Felsenbunker in der Seebener Straße wurde in seiner Bedeutung für unsere Sicherheit jetzt immer größer.
Was folgte, war für Klaus A. H. Jacob fast schon der Anfang vom Ende seines Lebens in Halle.
Später schaffte es unser Deutsch-Kanadier sogar, einen Amerikaner durch den verwinkelten Bunker zu führen. Der Soldat ließ dabei allerdings seinen Finger vom Abzug der Maschinenpistole nicht los. Der dolmetschende Kluth konnte etlichen sehr verängstigten Bunkerinsassen klarmachen, dass von den Amerikanern keine Repressalien zu erwarten seien, wenn sich die Deutschen im Bunker friedlich verhalten würden. Für uns war der Krieg endlich vorbei! Die einstigen britischen Kriegsgefangenen sorgten auch jetzt noch dafür, dass die Grundwasserpumpen im Bunker weiter arbeiteten.
Was folgte, war für Klaus A. H. Jacob fast schon der Anfang vom Ende seines Lebens in Halle.
Durch den Wechsel der Besatzungsmacht änderte sich unser Alltagsleben erst mal so gut wie nicht, besonders nicht für uns Kinder. Meine Familie konnte damals noch nicht ahnen, dass die Sowjets uns ein Jahr später nach Russland verschleppen würden. Alle noch lebenden Fachleute der Siebel-Flugzeugwerke wurden in einer nächtlichen Blitzaktion im Oktober 1946 mit ihren Familien und Möbeln für ein Weiterarbeiten in der Sowjetunion verpflichtet.
Ende 1950 durfte meine Familie wieder nach Halle zurückkehren
Auch alle wichtigen Maschinen und Geräte wurden eingepackt. Das Werk arbeitete mit dem ehemaligen Junkers-Flugzeugwerk Dessau ab dieser Zeit in Dubna-Podberesje an der Wolga. Aber das ist ein anderes Kapitel. Ende 1950 durfte meine Familie wieder nach Halle zurückkehren.
.. um die Stadt dann aber 1958 (drei Jahre vor dem Mauerbau) wieder zu verlassen. Klaus Jacob hat später weitere Jahre im Ausland verbracht, als Chefarzt in Äthiopien, ehe er sich in seiner jetzigen Heimat Siegen niederließ. (mz/dfa)