Jugendvollzug in Raßnitz Jugendvollzug in Raßnitz: Gefängnishof mit Kirche

Raßnitz/Halle - Allen Häftlingen geht es gleich - den Räubern, den Dieben und den Schlägern. Wenn sich die Gefängnismauern in Raßnitz schließen und die Jugendlichen zum ersten Mal über das Gelände laufen, blicken sie auf dieses Haus im Herzen des Gefängnishofes: auf die Kirche.
Die Gefängnisarchitekten von 2002 haben das genau so gewollt. Der Klinkerbau mit dem Kreuz steht im Zentrum der Jugendanstalt, aus jeder Zelle schaut man auf das Gotteshaus.
Den Gefangenen den Zorn nehmen
Hier hat die Hallenserin Gabriele Sommer ihr Büro, die 57-Jährige ist evangelische Pfarrerin in der Raßnitzer Anstalt im Saalekreis. Ihre Mission: „Ich möchte den Gefangenen mit meiner Arbeit etwas von ihrem Zorn nehmen“, sagt sie. „Und in der Zwangsgemeinschaft entsteht viel Zorn.“ Sommer will die Quelle für künftige Straftaten trockenlegen - das Hauptversprechen des deutschen Strafvollzugs.
Wie kompliziert das ist, zeigen Zahlen der Gefängnisleitung. 17 Prozent der 280 Häftlinge aus ganz Sachsen-Anhalt sitzen nicht zum ersten Mal im Gefängnis, sagt Anstaltsleiter Klaus-Dieter Schmidt. Ob man diese Zahl als Erfolg interpretiert oder als Anlass zur Sorge nimmt, ist eine Glaubensfrage. Im Deutschlandvergleich ist die Quote gut: Rund jeder zweite Häftling in Deutschland saß schon Mal im Gefängnis, errechnete das Statistische Bundesamt 2012.
Das Gleichnis des verlorenen Sohnes
Nach Raßnitz kommen Jugendliche wie diese: Ein Trio - Jungs im Alter von 15, 17 und 19 Jahre - unternimmt im geklauten Audi einen Raubzug durch Halle, überfällt wahllos Passanten, greift sie mit Pfefferspray an, lässt ein Opfer in den Pistolenlauf schauen. Vor dem Landgericht Halle werden sie im Dezember zu Haftstrafen zwischen drei und fünf Jahren verurteilt.
Fragt man Sommer nach ihrer Lieblingspassage in der Bibel, erzählt sie vom Gleichnis des verlorenen Sohnes, Lukas 15. Ein junger Mann bittet den Vater um seinen Teil des Erbes, zieht hinaus in die Welt, verprasst das Geld, kehrt als Bettler nach Hause zurück - und vor lauter Freude über die Wiederkehr gibt der Vater ein Fest. „Die Geschichte handelt von einem jungen Menschen, der sich völlig überschätzt hat“, sagt Sommer. Dieses Bibelgleichnis gibt auch einen tiefen Einblick in ihren Umgang mit den Gefangenen.
Schmerzlinderung - um diesen Begriff dreht sich vieles in Gabriele Sommers Arbeit. „Man kann nicht jeden Gefangenen mit Religion erreichen, mit ehrlicher Zuwendung jedoch schon“, sagt sie. Täglich hält sie Einzel- und Gruppengespräche mit den Straftätern, dazu kommen die Gottesdienste. Die Arbeit mit Härtefällen ist ihr nicht fremd, bevor sie 2002 nach Raßnitz kam, kümmerte sie sich um traumatisierte Kriegsflüchtlinge aus Jugoslawien.
„Das wichtigste Thema für die jungen Gefangenen ist der Umgang mit Trennung, der häufig jahrelangen Kontaktabbruch bedeutet“ – etwa von der Familie, vom Partner, von falschen Freunden. „Ich kann den Schmerz nicht wegreden“, sagt Sommer. „Aber ich kann durch Zuhören Linderung schaffen. Und das Gefühl geben: Hier ist ein Zeuge für deinen Schmerz.“
Mit ihrer Schweigepflicht nimmt die Gefängnispfarrerin eine Sonderstellung im Strafvollzug ein. „Und diese nehme ich ernst.“ Mit Blick auf die Rückfallquote der Häftlinge sagt sie, es ist wichtig, „den Blick zu schärfen für die Erfolge des Vollzugs.“ Sie könne nur säen, ernten müssten die Gefangenen selbst. (mz)
