Jeder sechste Hallenser überschuldet Jeder sechste Hallenser überschuldet: Wie kommt es überhaupt so weit?

Halle (Saale) - Vor Astrid Albrecht sitzt ein junges Paar. Er steckt schon im Privatinsolvenz-Verfahren, und begleitet seine Freundin. Sie gibt heute ihren Antrag auf Insolvenz ab. Schritt für Schritt geht Albrecht, die Leiterin der Schuldnerberatung der Verbraucherzentrale in Halle, die Papiere mit ihnen durch. Die 48-Jährige formuliert Beamtendeutsch in Sätze, die die Klienten verstehen und setzt an den richtigen Stellen Kreuze im Insolvenzantrag. Das arbeitslose Paar hat aus Versehen angekreuzt, keine Kinder zu haben.
Albrecht korrigiert, denn sie haben zwei. Die junge Mutter versucht zu erklären, wie sie überhaupt so weit ins Minus geraten konnte. Sie habe Scherereien mit dem Arbeitsamt gehabt - Fristen überzogen, lange kein Hartz IV bekommen, nicht gewusst, welche Versicherung noch läuft. Irgendwann konnte sie die Rechnungen nicht mehr begleichen. Ihr insolventer Partner erzählt, er stecke wegen „jugendlichen Leichtsinns“ in der Schuldenfalle. „Handyverträge, hier mal was, da mal was“, wie das eben so sei.
Oft ist Unwissenheit der Grund für die Überschuldung
„Das sind ganz typische Fälle“, erzählt Albrecht später. „Oft ist Unwissenheit der Grund für die Überschuldung. Die Leute schließen zum Beispiel mehrjährige Verträge ab, ohne sie zu lesen und können sie dann nicht kündigen, wenn das Geld fehlt“, so die 48-Jährige. Dazu komme ein falsches Konsumverhalten - das neueste Handy, dazu drei Flatrates und alle paar Tage ein neues T-Shirt, obwohl das Geld hinten und vorne nicht reicht. Die kleinen Posten läppern sich am Ende zusammen und übrig bleibt ein dickes, rotes Minus auf dem Konto. Die Schuldner kommen dann freiwillig oder werden vom Jobcenter geschickt.
Die Beraterin beobachtet, dass über die Jahre dieses falsche Konsumverhalten zunehmend junge Erwachsene vor die Tische der vier Mitarbeiterinnen in der Schuldnerberatung spült. „Mit denen muss man richtig durchrechnen - was bekommen sie, was müssen sie bezahlen, was bleibt am Monatsende noch. Viele haben nie gelernt, mit Geld umzugehen“. Sie hat sogar schon Klienten erlebt, die meinen, ein Anrecht auf Zahlungsverweigerung zu haben. „Vor mir saß mal jemand, der meinte, wenn UIi Hoeneß Steuerschulden anhäufen kann, dann müsste er seine Rechnungen auch nicht zahlen.“ Vor zwölf Jahren, als Albrecht Leiterin wurde, da kamen die Leute mit sortierten Unterlagen in Schnellheftern. Heute kommen sie trotz Termin oft gar nicht.
Schuldnerberatung Halle: Fälle werden insgesamt komplexer
„Die Fälle werden insgesamt komplexer, weil Schulden nur ein Teil vieler Probleme der Klienten sind“, sagt Albrecht. Und einmal im Schuldensumpf, sei es schwierig, sich aus eigener Kraft wieder herauszuziehen. Bei einer Durchschnittverschuldung von 12.000 und 20.000 Euro und einem geringen oder gar keinen Einkommen - ist es fast unmöglich. Halle ist seit Jahren als Schuldnerstadt verschrien. Die Saalestadt rangiert regelmäßig unter den Top Ten der Städte mit der höchsten Überschuldungsquote.
2009 bis 2016 verschärfte sich das Problem nachweislich. Während vor acht Jahren 16 Prozent der Hallenser überschuldet waren, waren es im vergangenen Jahr 17 Prozent - mehr als jeder Sechste -, wie der Schuldneratlas von Creditreform aufschlüsselt.
Schuldnerberatung Halle: Gesamtzahl der bearbeiteten Fälle etwa gleichgeblieben
Bei Albrecht und ihren Kolleginnen sei die Gesamtzahl der bearbeiteten Fälle in den letzten Jahren etwa gleichgeblieben, das könne allerdings daran liegen, dass die Fälle vielschichtiger werden und die Bearbeitung deshalb länger dauert.
Ein älteres Ehepaar im Beratungsraum nebenan klemmt schon Jahre in der Abwärtsspirale. „Als mein Vater starb, habe ich Schulden geerbt und mich auf jemanden verlassen, der sie eigentlich mit mir abstottern wollte“, erklärt die Klientin. Ihr Mann hat nach der Scheidung von seiner ersten Frau alle Kredite alleine schultern müssen und ist daran gescheitert. Er war bereits insolvent und muss vielleicht erneut Insolvenz anmelden.
Überschuldung schon in der dritten Generation
Seine Frau will für ihn und sich selbst demnächst alle Unterlagen zusammensuchen, damit sie vielleicht beide noch mal ins Insolvenzverfahren kommen. Das würde insofern helfen, als dass Schulden nach fünf bis sechs Jahren, in denen die Schuldner keine neuen Kredite aufnehmen dürfen und der Großteil ihres Vermögens an Gläubiger geht, am Ende des Verfahrens gestrichen werden. Dann steht die Uhr auf Null, die Fehler oder Unglücke der Vergangenheit sind wegradiert und jeder bekommt eine zweite Chance.
Im Falle des älteren Paares erreicht die Überschuldung schon die dritte Generation: Nach dem Vater der Frau sind sie selbst und mittlerweile ihr Sohn nicht mehr zahlungsfähig. „Das gibt es häufiger, dass die Kinder von überschuldeten Menschen selbst Schulden anhäufen“, sagt Beraterin Albrecht. Die Hauptursachen für Verschuldung in Halle in den vergangen Jahren sind Trennung und Arbeitslosigkeit. „Es fällt uns auch auf, dass Menschen, die Sozialleistungen beziehen, häufiger verschuldet sind, als die, die im Job stehen. Wobei eine Arbeit auch keine Garantie ist, dass man sich nicht überschuldet. Sehr oft betrifft es Paare, die zusammen ein Haus abzahlen und sich dann trennen. Die Kredite können nur von einem nicht mehr bedient werden und schon tritt Überschuldung ein.“ (mz)